Das ist so eine Methode: Über die Religion in der Krise
Glauben Wenn Religion doch an Bedeutung verliert, weshalb kommt es zu Blasphemien? Zwei neue Bücher klären auf. Freitag-Autor Michael Jäger hat sie gelesen
Sein Image hat in den vergangenen 100 Jahren einen Knacks bekommen
Foto: Juan Barreto/AFP/Getty Images
Zwei Bücher zur Lage der Religion, von der nach 1990 häufig geschrieben wurde, sie sei zurückgekehrt: Auf den ersten Blick wirken sie nebensächlich, aber das täuscht. Yvonne Sherwood untersucht die Geschichte und Gegenwart des Frevels, der Blasphemie, und der ostdeutsche Pfarrer Justus Geilhufe sieht keine Rückkehr, sondern ein Verschwinden der Religion – und beklagt sich bitter darüber.
Fangen wir mit der Blasphemie an, die aktuell tatsächlich eine so starke Rolle spielt, dass man annehmen muss, die Virulenz von Religion in der westlichen Gesellschaft sei doch sehr groß. So gibt es mancherorts ein offenbar heftiges Verlangen, den Koran zu verbrennen, und die Aktion von Pussy Riot in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale wurde freneti
drale wurde frenetisch bejubelt.Sherwoods Buch liest sich über lange Strecken wie eine fleißige Sammlung von Blasphemie-Phänomenen ohne viel Tiefgang. Ihre Untersuchung ist nicht religionsgeschichtlich angelegt; die Frage zum Beispiel, wie der Frevel mit dem Tabu zusammenhängt, wirft sie nicht auf. Eher zeigt sie, dass das Blasphemie-Verbot immer auch den sozialen Frieden schützen sollte, und das hieß häufig: eine jeweilige Herrschaft, die sich religiös legitimierte. So zeigt Sherwoods Rekonstruktion der Pussy-Riot-Aktion, dass die jungen Frauen weniger die Religion angriffen als deren Instrumentalisierung durch Wladimir Putins Staat. Denn das waren Anfang, Mitte und Schluss ihres Vortrags: „Jungfrau, Mutter Gottes, vertreibe Putin!“ „Ihr Chefheiliger, Kopf des KGB, / Führt eine Kolonne Protestierender ins Gefängnis / Damit sie den Heiligsten nicht beleidigen.“ „Jungfrau, Gebärerin Gottes, werde Feministin!“ Tatsächlich ist Kyrill I., den Putin zum „Patriarchen von Moskau und der ganzen Rus“ einsetzte, wie er selbst ein ehemaliger KGB-Agent.Es gibt auch sonst viele interessante Einzelheiten in Sherwoods Buch – wie dass das Kreuz erst zum Symbol des Christentums wurde, nachdem es zunächst seine antiken Feinde gemalt hatten, um die neue Religion blasphemisch zu beleidigen; oder dass dem blasphemischen Film Das Leben des Brian (1979) kurz vor dem Beginn der Dreharbeiten die Finanzierung entzogen wurde, sodass es ihn nicht gäbe, wäre nicht George Harrison von den Beatles eingesprungen –, aber man fragt sich lange, warum das alles so wichtig sein soll. Bis die Autorin am Ende die Phänomene sammelt und uns erklärt, warum der Frevel heute im Westen hochkocht: Er will sich damit von Religionen, die ihm rückständig erscheinen, besonders vom Islam, abgrenzen und dagegen seine eigene Freiheit ins Licht stellen. Wenn die Religiösen auch so frei wären wie er, würden sie Blasphemie gar nicht beachten, sie sind aber nicht so frei: Das soll demonstriert werden.Es ist eine Spielart der Kampagne „Demokratie versus Autoritarismus“. Nicht aber ist es, wie Sherwood zeigt, eine Fortsetzung jener antireligiösen Polemik um der Freiheit willen, die in der europäischen Neuzeit emanzipatorisch war und die Französische Revolution vorbereitete. Vielmehr ist das jetzt eine Methode geworden, auf im Westen lebende ethnische Minderheiten einzuprügeln. Deren Religion, um die es dabei angeblich geht, wird ebenso nur instrumentalisiert wie auf andere Weise das Christentum von Putin.Aber trotzdem, das Bedürfnis, Religion aufzugreifen, wenn auch ex negativo, ist heftig – warum? Justus Geilhufes Buch Die atheistische Gesellschaft und ihre Kirche lässt es ahnen. Der Autor meint, in der DDR sei sie den Menschen ausgetrieben worden und deshalb gebe es jetzt die Neonazis. Aber auch Westdeutschland sei inzwischen so irreligiös, wie es die DDR war, mit entsprechend fatalen Folgen auch dort. Die evangelische Kirche, der er angehört, reagiert in seinen Augen nicht richtig. Sie soll sich nicht an die progressive politische Agenda dranhängen, ist seine Empfehlung, ihre Aufgabe sei vielmehr, die Gesellschaft so zu „lieben“, wie sie ist, in all ihren Widersprüchen: Wenn sie das könnte, würde sie den progressiven Kräften einen Mut, ein ruhiges Selbstvertrauen geben, das sie von sich aus nicht haben. So habe sich die Kirche zur DDR gestellt, so müsse sie es auch jetzt tun. Die Menschen, auch die Progressiven, lebten ja in Widersprüchen, und am fatalsten sei es, wenn sie das leugneten. Hinter Geilhufes Überzeugung steht der „eschatologische Vorbehalt“, dass Menschen das letztendlich Gute, auf das sie geschichtlich zusteuern wollen, nicht in der Hand haben.Er weiß offenbar, dass dieser Vorbehalt auch am Anfang der Philosophiegeschichte stand. Lesen wir doch bei Platon, das Problem mit der „Idee des Guten“ – durch das eine noch so gerechte Handlung erst „heilsam und nützlich“ werde – sei, dass wir sie „nicht in voller Genauigkeit kennen“. Und war doch der Kirchenvater Augustinus ein Platonist! Weil wir das Gute nicht kennen, ist das Fragen bei Platon und auch bei Augustinus so wichtig. Und deshalb leben wir in Widersprüchen: Wenn wir Ziele anstreben, dann ohne die mit ihnen verbundenen Probleme zu sehen. Die überfallen uns erst später. Heute indessen tun wir so, als wüssten wir schon alles, und messen uns gegenseitig daran. Das heißt, wir haben alle Hoffnung verloren und leben faktisch in der Ziellosigkeit, im Nihilismus. Das ist Geilhufes Diagnose, auch wenn das Wort „Nihilismus“ nicht fällt.Darin liegt wohl ein Zusammenhang mit dem Blasphemie-Buch. Auf unsere Freiheit können wir stolz sein, ja! Aber wissen wir denn auch, welche freie Wahl wir treffen, welches Ziel wir anstreben wollen? Nein, wir berauschen uns am unendlichen Wachstum der Möglichkeiten, und vielleicht ist die, die wir sinnvoll wählen könnten, nicht einmal darunter. Ersatzweise kämpfen wir gehässig – blasphemisch – für die Freiheit als solche, unterstellen islamischen Menschen, sie wählten ihre Religion nicht frei: Um lautstark zu verbergen, dass wir selbst nicht etwa ein besseres Ziel, sondern gar keins mehr haben?Placeholder infobox-1
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