Ungenutzte Pressefreiheit

Netzpolitik.org Die Medien sind in der Affäre um Geheimdienst-Dokumente ihrer Aufgabe nicht gerecht geworden
Ausgabe 33/2015
Der Verfassungsschutz war auf dem Weg zur Massenausspähung
Der Verfassungsschutz war auf dem Weg zur Massenausspähung

Foto: Ipon/Imago

Die Ermittlungen gegen Netzpolitik.org wegen Landesverrats sind am Montag eingestellt worden. Ein Sieg der Pressefreiheit, sagen viele, und es stimmt auch. Ob sie deshalb aber gut dasteht, ist eine andere Frage. Zeigt denn der Verlauf dieser Affäre, dass wir Deutschen uns um die Pressefreiheit nicht sorgen müssen?

Wenn man die Frage so stellt, melden sich erhebliche Zweifel. Viel Medienkritik ist im letzten Jahr geäußert worden, meist im Zusammenhang mit der Berichterstattung zur Ukrainekrise. Es gab da Mängel, die einem jetzt wieder einfallen, so weit hergeholt es auch scheinen mag, diese Krise mit den Ermittlungen gegen Netzpolitik.org zu vergleichen.

Ein bezeichnender Mangel war, dass die Medien über das Minsker Abkommen vom 5. September 2014 nur wenig und dann allenfalls pauschal berichteten. Das Abkommen wurde nicht im Einzelnen analysiert, kein Leitfaden wurde erarbeitet, anhand dessen die Medien hätten verfolgen können, ob und wie das Abkommen von Kiew und der ostukrainischen Seite umgesetzt wurde. Da das alles nicht geschah, fiel es den Medien umso leichter, immerzu nur Russland zu beschuldigen.

Dieser Mangel tritt in der Affäre, die uns jetzt beschäftigt, noch krasser zutage. Auch da gibt es ein zentrales Dokument, das zu analysieren Aufgabe der Medien gewesen wäre: das von Netzpolitik.org veröffentlichte Dokument des Verfassungsschutzes. Markus Beckedahl und Andre Meister, die das Onlinemagazin betreiben, haben die Aufgabe gut bewältigt. Aber wer hat es aufgegriffen und ihre Arbeit fortgeführt?

Was man in diesem Dokument lesen kann, ist in der Tat empörend. Der Verfassungsschutz erklärt, er wolle die „internetgestützte Individualkommunikation“ künftig besser überwachen können. Was anschließend folgt, bringen Meister und Beckedahl auf den Punkt: Zwar behauptet der Verfassungsschutz, er überwache nur konkrete Einzelpersonen – und das ist es, was Recht und Gesetz vorschreiben –, hier aber tut er kund, dass er die Auswertung von Massendaten plant. Er will sich aus diesem Grund eine Personalaufstockung genehmigen lassen.

Der Rechtsstaat schafft sich ab

Das läuft auf eine digitale Rasterfahndung hinaus. Nicht nur der mutmaßliche Terrorist und das Netz seiner Bekannten, sondern auch die Bekannten der Bekannten, Merkmale, die ihnen gemeinsam sind – auch solche, die mit Terrorismus nichts zu tun haben –, und weitere Personen, die keine Bekannten ersten oder zweiten Grades, aber Merkmalsträger sind, werden ausspioniert. Tritt damit nicht ein, wovor schon so viele gewarnt haben: dass der Rechtsstaat sich im Kampf gegen seine Feinde selbst abschafft?

Man erregt sich über die Spionage der NSA, es macht die Sache aber nicht besser, wenn der deutsche Verfassungsschutz noch einen draufsetzt. Die Medien jedoch hat das nicht sonderlich interessiert. Sie haben nur gefragt: Ist die Veröffentlichung des Dokuments ein Fall von Landesverrat gewesen, wie Hans-Georg Maaßen, der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, behauptet? Durfte Generalbundesanwalt Harald Range deswegen ein Ermittlungsverfahren einleiten? Später dann auch: Durfte Bundesjustizminister Heiko Maas ihn öffentlich rügen und, als Range sich ebenso öffentlich wehrte, aus dem Amt entfernen?

Und weiter: Wen kann man sonst noch beschuldigen? Den Bundesinnenminister als obersten Dienstherrn des Verfassungsschutzpräsidenten? Die Bundeskanzlerin, die Maas’ öffentliche Stellungnahme, ein Fall von Landesverrat liege nicht vor, ausdrücklich unterstützt? Abgeordnete des neunköpfigen Vertrauensgremiums des Bundestags vielleicht noch, aus dem heraus das Dokument den Bloggern von Netzpolitik zugespielt worden sein könnte? Auf dem Weg zur Antwort fragen die Medien: „Wer wusste wann was?“ Das ist ihre Methode, die sie zuletzt in der Affäre um den SPD-Politiker Sebastian Edathy nuancenreich durchgespielt haben.

Von allen Beschuldigungsanläufen scheint vor allem der gegen Maaßen in der Sache weiterführend zu sein. Denn niemand anders als der Verfassungsschutz hat das empörende Dokument erstellt. Auch hier haben sich Meister und Beckedahl mustergültig verhalten, denn sie forderten Maaßens Entlassung, nicht mehr und nicht weniger. Aber ausgerechnet davon ist inzwischen gar keine Rede mehr. Anfangs war es noch ein mediales Thema gewesen.

Der Regierung scheint es recht zu sein. Es ist schon merkwürdig, dass sich deren ganzer Ärger über dem Generalbundesanwalt entlud, der eigentlich nicht viel verbrochen hat. Er ist der Anzeige des Verfassungsschutzpräsidenten mit viel Skrupeln nachgegangen. Bevor er das Ermittlungsverfahren anordnete, bat er den Verfassungsschutz um eine Begründung für den Vorwurf des Landesverrats. Nachdem ihm das Amt ein entsprechendes Rechtsgutachten zugesandt hat, ordnet er an, dass jedenfalls noch keine Maßnahmen gegen Meister und Beckedahl, etwa Hausdurchsuchungen, ergriffen werden sollen. Das Gutachten des Verfassungsschutzes überzeugt ihn offenbar nicht, er bestellt nämlich noch ein externes Gutachten. Noch bevor dieses den Vorwurf des Landesverrats bejaht, informiert er Meister und Beckedahl von dem gegen sie laufenden Verfahren. Die beiden erhalten seinen Brief am 30. Juli und stellen ihn sofort ins Netz.

Damit beginnt der öffentliche Teil der Affäre. Die Medien folgen dem Bundesjustizminister und schießen sich auf Range ein. Aber ist er vielleicht nur ein Bauernopfer? Einige kritisieren Maas, mit einer Fragestellung indes, die von der Sache wegführt: ob Maas die Justiz behindere. Dabei ist die Bundesgeneralanwaltschaft ein Organ der Exekutive. Sie durfte überhaupt nur mit dem Fall befasst werden, weil der Vorwurf des Landesverrats erhoben worden war – was auch Ranges Reaktion auf die Anzeige verständlich macht.

Mit einer Pressefreiheit, die von den Medien gar nicht genutzt wird, weil innere oder von außen angesetzte Scheren im Kopf das verhindern, ist es nicht weit her. Die von den Medien ergriffene Freiheit, das Gemeinwesen über Angelegenheiten zu unterrichten, die es angehen, und seine Aufmerksamkeit darauf zu lenken, das wäre Pressefreiheit. Meister und Beckedahl haben sie ergriffen, andere viel weniger.

Markt der Aufmerksamkeit

Diese anderen dürfen deshalb jetzt auch keinen Sieg der Pressefreiheit mitfeiern, als hätten auch sie zu ihm beigetragen. Wodurch denn? Durch ihren Versuch etwa, Range als angeblichen Hauptschuldigen vor sich herzutreiben und die Liste der Schuldigen dann noch möglichst stark zu erweitern, unter viel Schonung freilich des Verfassungsschutzpräsidenten? Sie lassen sich von ihm die absurde Frage diktieren, ob Landesverrat vorliegt.

Damit verfolgen sie die Interessen der Bundesregierung. Noch wo sie Bundesminister und die Kanzlerin kritisieren, reden sie um die Massenabhöraktion herum. Doch da spielen auch eigene Mängel mit, die oft genug hervortreten. Einer ist, dass man einen Fall aufgreift, eine Zeit lang aufbläst und die Blase dann spurlos platzt, bevor die Öffentlichkeit hinreichend Bescheid wissen kann. Der aufgegriffene Fall wird quasi kampagnenmäßig eine gewisse Zeit lang verfolgt, danach hört man nichts mehr von ihm. So ist das Thema Ukrainekonflikt im Moment völlig verschwunden, und auch vom Fall Netzpolitik.org werden wir wohl schon bald nichts mehr hören. Die Regierung wird es nicht schmerzen, bleibt doch dann das Thema der Massenausspähung unerörtert.

Wie erklärt sich die zeitliche Begrenztheit der Medienkampagnen? Man muss davon ausgehen, dass der Medienmarkt ein Aufmerksamkeitsmarkt ist. Je mehr Aufmerksamkeit eine Schlagzeile erregt, desto eher wird das entsprechende Medium gekauft. Ist die Aufmerksamkeit einmal da, versuchen die Medien sie möglichst zu strecken. Irgendwann meinen sie, jetzt könnten sie der Strecke nichts mehr hinzufügen, ohne die Leserinnen und Leser zu langweilen.

Sie selbst werden aber nur ausnahmsweise auf etwas aufmerksam. Auf „Skandale“ mit Vorliebe. Was in der Regel geschieht, ist vielleicht viel skandalöser als der Ausnahmeskandal, doch darüber zu schreiben, wer weiß, ob das Publikum es unterhaltsam fände? So hält man sich an die scheinbaren Ausnahmen, die nur eine Zeit lang verfolgt werden können.

Bleibt noch die Frage, wie man die Zeitlänge am besten steigern kann, und da antworten sie: Immer noch mehr Schuldige finden, das hält die Sache am Laufen. Oder immer neue Anzeichen für die Schuld des russischen Präsidenten finden. Im Ukrainefall war es nämlich nicht so opportun, auf die Idee zu kommen, dass es mehrere Schuldige geben könnte. Das Prinzip ist das gleiche. Es erklärt sich aus der medialen Manier, möglichst alles zu personalisieren. Die Manier ihrerseits erklärt sich daraus, dass die Rede über Personen unterhaltsamer ist und damit mehr Erfolg auf dem Aufmerksamkeitsmarkt verspricht, als wenn man ein Dokument analysiert.

Auch die Berichterstattung über die Mittelmeerflüchtlinge folgt diesem Muster. Hier haben die Medien zwar ausnahmsweise mal unbegrenzt Zeit, die Berichte zu verlängern, weil der Skandal, dass Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa ertrinken, sich fast täglich wiederholt und kein Ende abzusehen ist. Aber viele Medien folgen dann der Regierung und schreiben: „Die Schlepper sind schuld.“

Eigentlich wird jedes Kentern eines Flüchtlingbootes wie eine neue Ausnahme behandelt. Warum geschieht das denn nur? Dass Europa die afrikanischen Probleme, an denen es gewiss nicht unschuldig ist, von kosmetischen Maßnahmen abgesehen so weiterlaufen lässt wie bisher, rückt selten oder nie in den Fokus. Die Medien berichten einfach nicht.

Frei, wie sie sind, was könnten sie alles schreiben! Wenn eine Freiheit aber nur darin besteht, dass Möglichkeiten bestehen, die systematisch nicht genutzt werden, dann gibt es sie nicht.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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