Erstmals seit dreißig Jahren ohne Pressekonferenz endete Anfang der Woche die turnusmäßige Tagung des Nationalen Volkskongresses (NVK), bei der sich der Regierungschef den Fragen internationaler Journalisten stellt. Mutmaßlich ein Signal für das Bestreben von Präsident Xi Jinping, alles und jeden eisern unter Kontrolle zu halten. Die gut 2.900 Delegierten in der Großen Halle des Volkes haben erwartungsgemäß den Rechenschaftsbericht so gebilligt, wie ihn Premier Li Qiang erstattete. Ohne Debatte wurde das Wachstumsziel von „gut fünf Prozent“ bestätigt. Das verheißt Kontinuität, denn der gleiche Wert galt bereits im Vorjahr und wurde leicht übertroffen. Zum zweiten Mal in Folge sieht der neue Haushalt wieder ei
eine signifikante Steigerung der Militärausgaben um 7,2 Prozent auf 1,67 Billionen Yuan (214 Milliarden Euro) vor.Ministerpräsident Li Qiang will von Hightech-Importen unabhängig werdenWestliche Journalisten nehmen den Volkskongress als wiederkehrendes Ritual wahr und ignorieren, dass vor der alljährlichen Tagung überall im Land teils heftige Debatten geführt werden. Ohne Abstimmung mit den mächtigen Provinzführungen und den Vorständen großer Staatsunternehmen läuft nicht viel. Sie verkörpern den gesellschaftlichen Makrokosmos in einem Staat mit 1,4 Milliarden Einwohnern, den eine KP mit ihren gut 100 Millionen Mitgliedern nicht vollständig unter Kontrolle bringen kann. Zumal sich Chinas Führung einer Wirtschaftsflaute stellen muss, die das Land nicht so prosperieren lässt wie erwünscht. Der weiter schwelenden Immobilienkrise zu entkommen, fällt nicht leicht. Nach dem Konzern Evergrande ist mit Country Garden ein weiterer Immobilientrust wegen Zahlungsunfähigkeit per Gerichtsurteil zur Auflösung gezwungen und muss nicht der letzte gewesen sein. Bis vor Kurzem war der Bausektor eine der wichtigsten Konjunkturlokomotiven mit etwa einem Drittel der Wirtschaftsleistung.Immerhin haben chinesische Regierungen seit Jahr und Tag den Bau und Erwerb von Häusern und Wohnungen massiv gefördert. Wohlstand für alle, war das Versprechen, ein Volk von Hausbesitzern und Städtern eine Vision. Doch bricht der Verkauf von Wohnungen seit 2022 massiv ein. Das kostet Arbeitsplätze und belastet die Mittelklasse, deren Vermögen die rasant fallenden Immobilienpreise nicht unberührt lassen. Ein Jahrzehnt könnte es dauern, bis die Einbrüche einer Schlüsselbranche überwunden sind. Bis dahin dürfte der Finanz- und Bausektor auch mancher Provinz eine Verschuldung bescheren, die sich nicht mehr mit dem Verkauf von Baugrundstücken kompensieren lässt. Hinzu kommt die aktuelle Krise an den Aktienmärkten, die auch chinesische Besitzer von Aktiendepots schröpft, sodass an den Finanzmärkten Chinas eine gewisse Panik herrscht.Am Ziel der großen Transformation wird dennoch unerschrocken festgehalten, Chinas Ökonomie wohl mit einem jährlichen Haushaltsdefizit von drei Prozent und einer Inflationsrate von ebenfalls drei Prozent wachsen. Zwölf Millionen Arbeitsplätze sollen im kommenden Jahr entstehen, voraussichtlich nicht genug für Millionen junger Hoch- und Fachschulabsolventen, die Jahr für Jahr nach Beschäftigung suchen. Ministerpräsident Li Qiang hat auf dem Volkskongress Grundzüge einer Industriepolitik vorgestellt, die nicht wirklich neu ist. Auf mittlere und lange Sicht soll die Volksrepublik in allen strategisch wichtigen Hightech-Zweigen von Importen weitgehend unabhängig werden.Urbanisierungsgrad bei 65 Prozent der BevölkerungWo immer möglich, sollen die eigenen Wettbewerber technologische Spitzenpositionen erreichen, ja Weltmarktführer werden. Gewiss auch Teil der Vorkehrungen, die zu treffen sind, um sich auf eine Fortdauer des Kalten Krieges mit den USA einzustellen. Chinesische Ökonomen sehen darin auch einen Ansatz, sich für absehbar eskalierende Handelskonflikte mit der EU zu wappnen, ohne sich vom internationalen Warenverkehr abzukoppeln. Dem kommt die politisch gewollte Abkehr von der bisher betriebenen Wachstumspolitik mit ihren Vektoren Infrastruktur und Immobilien entgegen. Nach fast zwei Jahrzehnten, in denen beide Sektoren massiv gefördert wurden, ist der Urbanisierungsgrad von einst 40 auf heute über 65 Prozent der Bevölkerung emporgeschnellt. Kein anderer Indikator weist so deutlich auf den gewaltigen Strukturwandel, der sich in China vollzogen hat: Die Volksrepublik ist kein Entwicklungs- und kein Agrarland mehr, sondern ein fortgeschrittenes Industrieland, das außerdem über die meisten benötigten Rohstoffe selbst verfügt oder sie sich billig und problemlos verschaffen kann. Wenn die Energiewende weiter vorangetrieben wird, dann nicht zuletzt deshalb, um vom Import fossiler Brennstoffe unabhängig zu werden und an geopolitischer Statur zu gewinnen.China hat seinen Anspruch, in der Weltpolitik an Einfluss zu gewinnen, nicht zurückgenommen und verhält sich wie bei seinen Wachstumszielen auch hier moderat. Kooperation statt Konfrontation, so die Maxime, auf dass sich die Weltmächte arrangieren, statt antagonistischem Hader zu verfallen. Die USA und Europa sollten China als mindestens gleichberechtigten Akteur akzeptieren und einer dementsprechenden Neuordnung der Welt zustimmen. Wie, das wird im Ungefähren gelassen. Jedenfalls spricht viel dafür, dass China wegen Taiwan keinen Krieg in Asien will, schon gar nicht in der Taiwan-Straße und damit vor der Haustür. Der geplante Bau von zwei nuklearbetriebenen Flugzeugträgern scheint mehr ein demonstrativer Akt aus Statusgründen zu sein als Ausdruck konkreter Angriffsvorbereitungen.Vom Krieg Russlands gegen die Ukraine war auf dem Volkskongress kaum die Rede. Kurz zuvor war ein chinesischer Sondergesandter zum zweiten Mal auf Tour nach Europa geschickt worden – bisher ohne Erfolg. Seit einigen Wochen sind alle relevanten chinesischen Banken dabei, Transaktionen mit Russland zu beenden. Offenbar wirken die amerikanischen Drohungen mit Sekundärsanktionen. Auch das gewaltige Prestigeprojekt „Sibiriens Stärke II“, die zweite Gaspipeline von Russland nach China, liegt vorerst auf Eis. Hinter den Kulissen heißt es, die Chinesen wollten den Freundschaftspreis, zu dem sie russisches Erdgas beziehen, weiter drücken.