April 2005: Ein Report des Bundesministers für Wirtschaft und Arbeit Wolfgang Clement erscheint. „Vorrang für die Anständigen – Gegen Missbrauch, ‚Abzocke‘ und Selbstbedienung im Sozialstaat“. Schon Ende der 70er avancierten „Abzocker“, „Sozialschmarotzer“ und „Parasiten“ zu den Hauptfeinden der neokonservativen und neoliberalen Kritik am Wohlfahrtsstaat, schreibt Christoph Butterwegge. Das Aufdecken von „Sozialbetrug“ wurde aber spätestens mit Einführung von Hartz IV, fünf Monate vor dem Clement-Report, zu einem medialen Dauerthema. Seitdem beglücken uns die Medien mit Reality-Formaten wie Gnadenlos gerecht – Sozialfahnder ermitteln (Sat.1). Und auch der Spiegel wusste früh, „wie der Sozialstaat zur Selbstbedienung einlädt“. An der massenmedialen Berichterstattung hat sich wenig geändert: Wenn es um die geht, die unten sind, bedeutet öffentliche Sichtbarkeit meist Armutspornografie oder Verurteilung. Oder beides.
Nur zärtliches Kopfstreicheln
Es gibt bessere Versuche, sich der Armut zu nähern. Da ist der Klassiker von James Agee und Walker Evans, Let Us Now Praise Famous Men von 1941 (deutsch: Preisen will ich die großen Männer). Das Buch porträtiert Farmerfamilien im Süden der USA in Zeiten des „New Deal“, der Wirtschafts- und Sozialmaßnahmen, die in den 1930ern unter Franklin D. Roosevelt in Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise getroffen wurden. Doch selbst diese eindrucksvolle Mischung aus Reportage und Fotobuch scheitere, trotz bester Absichten, meint der Romancier und Reporter William T. Vollmann. Das Buch bleibe „in seinem Kern ein Aufschrei kindlicher Liebe, der Art Liebe, die ein Kind treibt, sich an die Beine eines Fremden zu klammern. Was kann der Fremde anderes tun, als dem Kind lächelnd über den Kopf zu streicheln?“ Es scheitere, „weil hier zwei reiche Männer das Leben der Armen betrachten. Die Beine des Fremden mögen erreichbar sein, aber der Fremde selbst in seiner riesenhaften Gänze bleibt in seiner Armut unerreichbar.“ Vollmann selbst versucht es in seinem gerade bei Suhrkamp erschienen Band Arme Leute besser zu machen. Und es gibt weitere Beispiele, die der Armut vielleicht näher kommen, wie Günter Wallraffs Undercover-Reportage Ganz unten, die von November 1985 bis April 1986 Nr. 1 der Spiegel-Bestsellerliste war.Oder das Buch von Freitag-Redakteur Christian Baron, Proleten, Pöbel, Parasiten, (2016), das anhand eigener Erfahrungen die „Verachtung der Linken für die Arbeiter“ analysiert. Owen Jones der in einem Großbritannien aufwuchs, dessen First Lady „keine Gesellschaft, nur Individuen und Familien“ kannte, hat mit Chavs. The Demonization of the Working Class Ähnliches unternommen. Was all diese Versuche eint, ist der empathische Zugang.
Will man herausfinden, was Armut, Prekariat und Abstiegsangst bedeuten, muss man den Betroffenen zuhören. Weshalb der Freitag genau danach fragte: nach Erfahrungen sozialer Abwertung, Abstiegsangst, Unsicherheit als Aufsteigerin oder Aufsteiger, Erniedrigungen im Job. Seither haben sich Hunderte, vor allem in sozialen Netzwerken, unter dem Hashtag #unten zu Wort gemeldet, auch E-Mails und Briefe haben die Redaktion erreicht.
Viel wird da erzählt von der Kindheit, beengtem Raum, von Hänseleien, Lehrerinnen und Lehrern, die Kindern zu verstehen geben, dass aus ihnen einmal nicht viel wird. Von Ausreden, die man Freunden erzählt, weil man kein Geld hat, auszugehen, Gängelung durch Behörden, Hunger am Monatsende, Angst vor dem Geldautomaten, das Leben als Alleinerziehende. Und ganz oft sprechen die, die sich zu Wort melden, von der Überwindung, die es kostet, diese Erfahrungen mitzuteilen. Von Scham. Ihr Mut ist bewundernswert.
Armut ist ein Menschheitsthema, immer schon war sie, wenn nicht zum spirituellen Ideal oder Lifestyle überhöht, soziales Stigma und Ausschlusskriterium. Aber es lassen sich Etappen bestimmen, die zeigen, dass sie mehr und mehr zum Tabu wurde, zu etwas, für das man verachtet wird. Sie entsprechen ziemlich genau der neueren Entwicklung der Armut selbst.
Die jüngste Etappe markiert Hartz IV. In den neuen Bundesländern hatte die Treuhand dafür gesorgt, dass Industriezweige eingingen, dass Menschen dort oft mit dem Scherbenhaufen einer Sozialstruktur, die sich um den Betrieb gedreht hatte, allein blieben. Hartz IV steht für die Erosion des Sozialen in Deutschland, die nicht nur Arme immer ärmer macht, sondern Millionen Prekären – precarius ist der, der von der Gnade anderer abhängt, die nur auf Widerruf gewährt wird – Abstiegsängste beschert. Ein Bericht der Bundesregierung bezeichnete 2017 15,7 Prozent der Bevölkerung als arm oder an der Armutsgrenze lebend. 13 Millionen! Das macht denjenigen Angst, die es noch nicht sind. Ängste, die alle befallen, die nicht große finanzielle Rücklagen haben und sich fragen, ob Jobverlust nicht eine Abwärtsspirale bedeuten kann: im Krankheitsfall, bei persönlichen Schicksalsschlägen, familiären Vepflichtungen, im Fall von Suchtproblemen. Ängste, die manche dazu verleiten, Parteien zu wählen, die sich sozial geben, aber darunter eine Privatisierung dessen, was eigentlich Gemeinschaftssache ist, verstehen.
Ängste, die kalt machen. Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer spricht von „autoritärem Kapitalismus“, dem eine „rohe Bürgerlichkeit“ entspricht, welcher „vielfach das Gefühl für verschiedene Formen von Gerechtigkeit, Solidarität und Fairness, die nicht an Effizienz, Nützlichkeit und Verwertbarkeit gekoppelt ist“ fehlt. „Rohe Bürgerlichkeit setzt auf Konkurrenz und Eigenverantwortung in jeder Hinsicht. Wer dem nicht gewachsen ist, dem ist nicht zu helfen und dem soll auch nicht geholfen werden.“ Das Gegenteil des Ideals des Citoyens, der ein Bürger doch auch sein soll.
Ein Hashtag vernetzt Aussagen, die Personen in sozialen Netzwerken treffen. Und er macht, wenn viele ihn benutzen und er die Netzwerke verlässt, ein Thema zu einem Schlagwort. #MeToo ist so zur Signatur für das Geschlechterverhältnis unserer Zeit geworden. Auf Twitter und Facebook ist #unten präsent, es hat in den englisch- und französischsprachigen Raum gefunden, deutschsprachige Medien berichteten. Ein Hashtag ist nicht steuerbar. Dass von den vielen Fragen, die der Freitag gestellt hat, die nach Diskriminierung öfter als andere eine Antwort findet, war nicht geplant. Und auch ungerechte Entlohnung, Abstiegsangst und die prekäre Lage Alleinerziehender kommen vor, und Gedanken darüber, was da alles eigentlich geschrieben wird. Da wird #unten quasi reflexiv, denkt über sich selbst nach.
Ein Nutzer meinte, hier würden Gerechtigkeits- in Anerkennungsfragen umgemünzt. Nur bedingt: #unten ist #MeToo, mit dem Erfahrungen sexualisierter Gewalt geteilt werden und Gerechtigkeit gefordert wird, ähnlicher als #MeTwo, das eher auf Anerkennung kultureller Diversität zielte. Armut ist kein Problem der Diversität: Was ein Bekenntnis zur Vielfalt anstrebe, so Walter Benn Michaels in The Trouble With Diversity, ist „keine Gesellschaft, in der es keine Armen gibt, sondern eine, in der nichts falsch daran ist, arm zu sein, eine Gesellschaft, in der arme Menschen geachtet werden.“ Bei #unten geht es um jene Gesellschaft, „in der es keine Armen gibt“. Und sollte das für jetzt zu viel sein: um die Abschaffung von Hartz IV. Um bedingungsloses Grundeinkommen. Um weniger Kinderarmut. Um Unterstützung für Alleinerziehende. Doch auch Anerkennung ist wichtig, auch für die, die sich unter schwierigsten Umständen aus der Armut befreit haben.
Dass es vor allem die sind, die sich befreit haben, die sich jetzt auf Twitter melden, hat Kritik hervorgerufen. Da mag etwas dran sein. „Nur wenige der Menschen, die Gegenstand des Buches sind, hätten es lesen, geschweige denn schreiben können“, das galt, so Vollmann, auch schon für Let Us Now Praise Famous Men. Ziel ist es, Stimmen hörbar zu machen, die notwendig sind, um Armut bekämpfbar zu machen. Egal in welchem Medium. Damit wir #unten nicht mehr brauchen, irgendwann.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.