Vor Tagen ist das Bollwerk Awdijiwka in der Nähe von Donezk gefallen. Ukrainische Verbände sind hinter zuvor errichtete Verteidigungswälle westlich der Stadt ausgewichen. Im Süden ist die russische Armee am Robotine-Verbove-Bogen zur Gegenoffensive übergegangen, um im Vorjahr verlorenes Terrain wieder einzunehmen, im Norden drückt sie Richtung Kupyansk. Nur mit Mühe werden Frontlinien gegen russische Offensivachsen gehalten.
Erschwerend kommt hinzu, dass ein neues Mobilmachungsgesetz seit Monaten im Kiewer Parlament feststeckt. Der aus militärischer Sicht unvermeidbare Schritt, entschieden mehr Personal für die Armee zu rekrutieren, birgt für die Regierung erhebliche innenpolitische Risiken und verfällt parlamentarischem Endlos-Gezerre.
s-Gezerre. Und dann löst zu allem Überfluss die Absetzung des bisherigen Oberbefehlshabers Walerij Saluschnyj durch Präsident Wolodymyr Selenskyj teils entsetzte Reaktionen aus. Monate schon hatten sich die Spannungen zwischen beiden verschärft. Saluschnyj widersetzte sich immer offener – wie das auch in ukrainischen Medien seinen Niederschlag fand – den Wünschen Selenskyjs und warf ihm Realitätsferne vor. Umgekehrt machte der Staats- seinen Armeechef für das Scheitern der Sommeroffensive verantwortlich und attackierte ihn, keinen Offensivplan für 2024 vorzulegen.Syrskyj soll es richtenAlles beruhigen soll nun Oleksandr Syrskyj, ein hoher ukrainischer Militär, der in Russland geboren wurde, in Moskau an der Militärakademie studierte und die Kommandomentalität eines typischen sowjetischen Generals haben soll. Neben Saluschnyj wurden weitere Befehlshaber von Frontabschnitten ausgetauscht. Die gesamte Kommandostruktur steht zur Disposition, was angesichts der teils prekären Lage an der Front nachvollziehbar, allerdings auch ein gewagtes Unterfangen ist. Syrskyj und sein Stab gelten als äußerst loyal gegenüber Selenskyj, auch wenn der neue Oberkommandierende ein eher fragwürdiges Portfolio vorzuweisen hat.Ihm werden gleich mehrere bittere Niederlagen seit 2014 angekreidet – die schlagendsten sind die verlorene Schlacht um den Eisenbahnknotenpunkt Debalzewe Anfang 2015 im Donbass und der Fall von Bachmut im Mai 2023. Nun soll ausgerechnet Syrskyj ein Wunder bewirken. Selenskyj erwartet von ihm nichts weniger, als den Kriegsverlauf um 180 Grad zu drehen. Und das noch 2024, wenn möglich soll schon im Frühjahr in die nächste Offensive übergegangen werden. Details dazu gibt es kaum, doch deuten regierungsnahe Medien an, dass vom neuen Befehlshaber „unkonventionelle Herangehensweisen“ zu erwarten seien.Realistisch ist ein solcher Umbruch derzeit nicht. Der ukrainischen Armee fehlt es neben Soldaten an Technik und Munition. Während der Westen bei Letzterem aushelfen kann und voraussichtlich wird – wenn auch offen ist, in welchem Umfang –, sind die menschlichen Ressourcen in der Ukraine mehr als begrenzt und schwinden durch erlittene Verluste, Flucht, Abwanderung und zunehmenden gesellschaftlichen Widerstand gegen die Mobilmachung. Immer öfter kommt es zu Fällen von aktiver Gegenwehr gegenüber Einzugskommandos – Tendenz steigend.Ein „Wunder auf dem Schlachtfeld“ ist durch General Syrskyj vorerst nicht zu erwarten. Bestenfalls werden ukrainische Truppen in eine systematische Defensive übergehen, um das Momentum einer russischen Offensive mit minimalen Schäden zu überstehen und zugleich im Hinterland Reserven zu akkumulieren. Dafür vorgesehene Verteidigungsbastionen werden entlang der gesamten Front errichtet und erinnern stark an die russischen Befestigungen, wie sie der damalige Befehlshaber Sergei Surowikin im Vorfeld der ukrainischen Sommeroffensive hochziehen ließ. Dass es sie gab, hat maßgeblich zum Scheitern der ukrainischen Angriffe beigetragen.Was bei einer Defensivstrategie fehlen dürfte, sind medial wirksame Aufnahmen von vorrückenden ukrainischen Kolonnen und flatternden Fahnen über befreiten Städten. Angesichts der zweifelhaften Reputation Syrskyjs als gefälliger Gefolgsmann Selenskyjs, der die Wünsche seines Präsidenten zu erfüllen sucht, droht im schlimmsten Fall ein Szenario, bei dem ermutigende Bilder trotzdem produziert werden. Schon länger wird Selenskyj vorgeworfen, eine Symbolpolitik der „starken Eindrücke“ über die militärische Realität zu stellen. Mit der Absetzung Saluschnyjs, der in dieser Hinsicht Selenskyj nicht folgen mochte, könnte sich die Kluft zwischen Schein und Sein vertiefen, um die tatsächliche Lage der ukrainischen Truppen und deren extrem risikoreichen Weg zu verschleiern.Dass ein solches Szenario nicht unwahrscheinlich ist, deuten sowohl ukrainische wie russische Militärbeobachter an. In der Ukraine gilt Syrskyj als rücksichtslos gegenüber eigenen Soldaten und ihrem Leben. Er trägt wenig schmeichelhafte Beinamen wie „General Schlachter“ oder „General 200“ – im ukrainischen Militärjargon entspricht der Ausdruck „200“ dem englischen KIA: „Killed in Action“. Zahlreich sind die Vorwürfe, dass Syrskyj keine noch so verlustreichen Frontalangriffe scheut, um symbolische Bodengewinne zu erzielen und diese bei der Chefetage als Erfolg zu melden. Trotz gegenteiliger Behauptungen in Kiew wachsen unter ukrainischen Soldaten Befürchtungen, dass es Angriffsbefehle von strategisch zweifelhaftem Wert geben wird, um politische Ambitionen zu bedienen. Das jüngste Desaster von Awdijiwka, wo gegen jeglichen militärischen Sinn und bei bereits erkennbarem Ausgang der Schlacht noch die kampfstärksten ukrainischen Verbände in den Halbkessel geworfen wurden und ihn nicht mehr verlassen konnten, ist ein Indiz, dass die besorgten Annahmen begründet sind.In der russischen Kriegsdebatte herrscht eine ähnliche Einschätzung – nur mit umgekehrten Vorzeichen. Die Absetzung des in Russland vielfach respektierten Walerij Saluschnyj wird als „bestes Geschenk Selenskyjs an die russische Armee“ bewertet. Gerade im Hinblick auf die angekündigte „unkonventionelle Herangehensweise“ rechnen zahlreiche Kriegsreporter damit, dass sich Syrskyj zu militärisch fragwürdigen, aber aufsehenerregenden Operationen hinreißen lässt, um für Präsident Selenskyj das angeschlagene ukrainische Siegesnarrativ zu beleben. Im Gespräch sind ukrainische Angriffe am Boden auf russische Territorien oder eine groß angelegte Landeoperation auf der Krim. Beides wären Unternehmen, die kaum Aussichten auf Erfolg hätten und mit schweren Verlusten verbunden wären, dafür aber kurzzeitig sensationelle Bilder nach dem „D-Day“-Motiv vom 6. Juni 1944 in der Normandie für den Medien-Normalverbraucher produzieren würden.