Noch sind die Ausläufer des Bebens zu spüren, das der Tod von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin in der russischen Kriegsdebatte ausgelöst hat. „Wagner“-nahe Portale und Politiker trauern weiter offen in ihren sozialen Netzwerken und räsonieren über einen „Schicksalsschlag“. Noch am Tag des Flugzugabsturzes war es an Wagner-Filialen quer durch Russland zu spontanen Trauermeetings gekommen. Allein vor dem „Wagner-Zentrum“ in St. Petersburg entstand ein ausladender Straßenteppich aus Kränzen, Bildern und Kerzen. Wagner-Soldaten brachen vor improvisierten Altären auf Knien in Tränen aus. Sicher irritierend für nichtrussische Beobachter, aber eben auch mehr als nur ein Indiz dafür, welch emotionaler Nerv der
2;r nichtrussische Beobachter, aber eben auch mehr als nur ein Indiz dafür, welch emotionaler Nerv der Kriegsreflexion durch Prigoschins Tod getroffen wurde.Darum war Jewgeni Prigoschin so beliebtKurz nach dem Absturz meldeten Reporter, bei Fronteinheiten seien Apathie und Schock verbreitet, man müsse um die Kampfmoral fürchten. Prigoschin war wegen seiner offenen, oftmals nicht zitierfähigen Polemik gegen Verteidigungsminister Sergej Schoigu, Generalstabschef Waleri Gerassimow wie die korrupten Strukturen innerhalb der Generalität bei einfachen Soldaten beliebt. Er genoss ein um Welten größeres Vertrauen als das Verteidigungsministerium. Nun seien Soldaten „komplett aus der Bahn gerissen“, schrieb Kriegsreporter Wladimir Romanov. Gerüchte und Spekulationen über hochrangige Feinde und einen mutmaßlich gezielten Anschlag vervielfachten den Effekt. Ein Kollaps russischer Verteidigungslinien in der Ukraine wegen eines implodierenden Durchhaltevermögens blieb indes aus. Auch mittelfristig dürfte das Verschwinden Prigoschins keinen signifikanten operativen Einfluss auf das Kriegsgeschehen haben. Die Wagner-Söldner waren daran schon seit über zwei Monaten nicht mehr beteiligt. Ein Teil davon ging nach Belarus, andere wurden nach Afrika verlegt. Das Verschwinden Prigoschins hinterlässt allerdings weder eine Lücke an der Front im Osten noch bei den Kapazitäten über die Ukraine hinaus.Plan C: Anton „Lotos“ ElizarovEine „Wagner-Zukunft“ ist dagegen ungewisser denn je. Durch den Absturz des Prigoschin-Jets starb nicht nur der Söldner-Chef selbst, es traf ebenso Dimitri Utkin alias „Wagner“ – eigentlicher militärischer Kopf und Namensgeber der Legionäre. Er galt als zentrale Figur für einen „Plan B“, sollte demnach der Nachfolger Prigoschins sein, würde dem etwas zustoßen. Wie Wagner-nahen Portalen zu entnehmen ist, existierte zugleich ein „Plan C“ für den Fall, dass beide Anführer ums Leben kommen. Dieses Tableau sah vor, dass Anton Elizarov – Kampfname „Lotos“ – das Kommando übernimmt. „Lotos“ blieb lange Zeit jenseits medialer Aufmerksamkeit, kommandierte aber die zuletzt wichtigsten Operationen, darunter die Einnahme der schwer befestigten Stadt Soledar unweit von Bachmut. Die Berichte über „Plan C“ lassen sich schwer überprüfen, scheinen aber realistisch zu sein. Wie Vertraute Prigoschins andeuten, sei der sich seit Langem sicher gewesen, keines natürlichen Todes zu sterben. Ob Elizarov jedoch einen Zerfall von Wagner-Strukturen aufhalten kann, ist im russischen Kriegsdiskurs mehr als umstritten.Das Verteidigungsministerium dürfte ein Wiedererstarken der „Wagners“ wegen der davon ausgehenden politischen Risiken schwerlich zulassen. Der Duma-Abgeordnete, Generalleutnant Viktor Sobolev, meint dazu: „Die Gruppe wird ihre Existenz beenden. (...) Es ist eine illegale bewaffnete Formation. Es sollte in einem Staat keine bewaffneten Gruppen dieser Art geben, die ihm nicht unterstehen.“ Wie es heißt, sollen sich Verteidigungsministerium und Armee im Eilverfahren um eine Übernahme der Prigoschin-Strukturen und -Leute bemühen. Kämpfer könnten vor der Alternative stehen, Verträge zu unterschreiben oder auszureisen. Dass die „Wagners“ Bestand haben, ist deshalb eher unwahrscheinlich.Privatgarde für Alexander LukaschenkoBliebe ein möglicher Neuanfang in Belarus. Anfängliche Berichte, dass Wagner-Kämpfer gleich nach Prigoschins Tod von dort geflohen seien, wurden später dementiert. Von Präsident Alexander Lukaschenko ist zu hören, dieser Trupp „war, ist und wird in Belarus sein“. Hierfür habe er mit Prigoschin kurz vor dessen Tod ein „System“ vereinbart, das eine permanente Stationierung erlaube. Lukaschenko selbst sprach von 10.000 Kämpfern, möglicherweise könnten es auch mehr werden. Tatsache ist, dass im August Wagner-Lager an verschiedenen weißrussischen Orten entstanden, ausgelegt für Mensch und Material. Die offizielle Version lautet nun, dass die „Wagners“ vor allem als Ausbilder in der dortigen Armee zum Einsatz kommen, doch wird gleichfalls spekuliert, dass Lukaschenko sich für eine Privatgarde erwärmen könne, die ihm loyal ergeben ist und als Gegenleistung die Macht sichert – vor allem mit Blick auf die näherrückenden Präsidentenwahlen 2024.Auch für Wagner-Verbände in Afrika traf Prigoschin kurz vor seinem Tod noch einige Vorkehrungen. Tage vor dem tödlichen Flug unternahm er eine Tour durch mehrere Länder, um für seine Firma neue Verträge abzuschließen. Selbst wenn Details nicht bekannt sind – als sicher gelten künftige Wagner-Operationen in Mali, der Zentralafrikanischen Republik, eventuell in Niger, wo die regierenden Militärs nach Verbündeten suchen. Was Prigoschin – womöglich in Todesahnung – unternahm, lässt manche „Wagners“ in St. Petersburg zuversichtliche und selbstgewisse Statements des Tenors abgeben: „Wir werden gemäß unserer Doktrin weitermachen.“