Es wird mal wieder abgeschoben. Die Süddeutsche Zeitung berichtet von einem Papier aus dem Bundesinnenministerium, in dem es heißt, „Angehörige von Gemeinschaften der Organisierten Kriminalität“ sollen „unabhängig von einer strafrechtlichen Verurteilung“ ihr Aufenthaltsrecht verlieren. Zur Vermeidung von Missverständnissen erklärte man gegenüber Bild, um wen es geht: den neusten Dorn im Auge des Volkskörpers, die „Clanmitglieder“.
Nicht etwa als Individuen. Sondern so, wie man sie sich nach einer gehörigen Springer-Dröhnung vorstellt: als zusammenklebendes Kollektiv. Selbst schuld, wenn die alle gleich auftreten, ruft das gesunde Volksempfinden dazwischen. Dicke Autos, dunkle Haare, dubiose Shisha-Bars – da weiß man schon, dass jeder Einzelne kriminell ist.
Wer Bedenken anmeldet, wo dieses Wissen herrührt, ist schnell mit dem Wort „weltfremd“ konfrontiert. Der Vorwurf sagt: Hier ist die Welt, das Wahre, das Faktische, Wittgenstein würde sagen, das, was der Fall ist. Und dort bist du, den Dingen, die der Fall sind, fremd. Aber was ist eigentlich der Fall?
Organisierte Kriminalität ohne Organisation
Der Fall ist, dass aus Familien, die mit dem Begriff „Clan“ bedacht werden, Experten zufolge zehn Prozent oder weniger straffällig sind. Dies bitte im Hinterkopf behalten. Jetzt wird es theoretisch, aber das muss eine Demokratie aushalten. Organisierte Kriminalität ist gekennzeichnet durch eine arbeitsteilige Tatbegehung. Der Fall ist, dass es sich nicht um Organisierte Kriminalität handelt, wenn die Organisationsstruktur kein maßgeblicher Faktor in der konkreten Ausgestaltung der Tat ist.
In den „Lagebildern Clankriminalität“ der Landeskriminalämter, die die einzige empirische Grundlage der ganzen Debatte darstellen, sind Straftaten erfasst, bei denen dieser Organisationscharakter erklärungsbedürftig ist. In Berlin etwa bilden Straßenverkehrsdelikte die größte Gruppe. Weiterhin finden sich Urkundenfälschung, Beleidigung, Beförderungserschleichung und Sexualdelikte. Mit anderen Worten: Was auch immer sich ein Mensch mit einem bestimmten Nachnamen zuschulden kommen lässt, fließt in diese Statistik mit ein. Durchaus auch Raubüberfälle, Betrug, Drogenhandel, Taten also, die organisiert durchgeführt werden können. Aber eben auch der 16-jährige Großcousin dritten Grades, der einmal zu oft ohne Ticket in den Zug steigt, und dessen 21-jähriger Bruder, der in einer Polizeikontrolle verbal ausfällig wird.
„Das weiß man doch“ ersetzt keine Fakten
Solche Taten begehen Millionen Menschen auf der ganzen Welt tagtäglich. Der Fall ist außerdem, dass arabische und türkische Familien doppelt so häufig sozioökonomisch prekär leben wie deutsche. Der Fall ist, dass Armut und Ausgrenzung Kriminalität statistisch begünstigen, unabhängig von der Herkunft. Der Fall ist, dass die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden, für schwarzhaarige Kriminelle höher ist als für blonde Kriminelle – so hat mehr als die Hälfte aller Schwarzen Menschen in Deutschland schon einmal willkürliche Polizeikontrollen erlebt.
Wer meint, empirisch belastbar zu wissen, was Clankriminalität ist, der melde sich schleunigst bei seiner Landespolizei. Er hat nämlich extrem nützliches Geheimwissen. Aber Achtung: „Das weiß man doch“ und „Die kennt man doch“ ersetzen keine Datengrundlage über das, was der Fall ist. Wer sich dafür nicht interessiert, ist – weltfremd. Und gießt eimerweise Wasser auf die Mühlen einer gefühlsduseligen, angstgetriebenen Debatte, an deren Ende Sippenhaft und willkürliche Deportationen stehen. Wehret den Anfängen.
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