Glückwunsch, Sie haben Ihr 1,5-Grad-Ziel erreicht!
Prognose Die Ozeane brechen einen Temperaturrekord nach dem anderen; die Begrenzung der Erderwärmung bei 1,5 Grad über dem vorindustriellen Niveau ist offenbar schon jetzt überschritten. Das hat weitreichende Folgen
Die Reichen werden sich mit jedem Klima arrangieren können, nur die Armen kommen unter die Räder
Foto: STR/ANP/AFP/Getty Images
Kürzlich interviewte ich einen Meteorologen, der sich mit Klimaprognosen beschäftigt. Woran kann das liegen, fragte ich ihn, dass uns das Klima gerade so vollständig entgleist? Was ist – zum Beispiel – der Grund dafür, dass der Atlantik sich in einem Tempo erwärmt, dass man bald damit die Wärmepumpen ganz Deutschlands betreiben könnte? 2023 lag die Durchschnittstemperatur des Ozeans mehr als ein Grad über dem Langzeitmittel der Jahre 1982 bis 2011. Das ist, statistisch gesprochen, „off the charts“: so krass, dass es jede Vorstellung sprengt, dass die Kurve nicht mehr ins Koordinatensystem passt.
Ja nun, könnte man sagen: Dann war das halt ein Ausnahmejahr, letztes Jahr, ein Freak-Event, rar und unwahrscheinlich aber mö
6;nnte man sagen: Dann war das halt ein Ausnahmejahr, letztes Jahr, ein Freak-Event, rar und unwahrscheinlich aber möglich, etwa so, als würde Bayer Leverkusen Deutscher Meister. Doch leider macht 2024 genau da weiter, wo 2023 aufgehört hat: Die Kurve der Meerestemperatur steigt unaufhörlich in immer schwindelerregendere Höhen.Das fragte ich den Meteorologen also. Ehrlicherweise fiel seine Antwort ziemlich unbefriedigend aus. Sie klang nicht panisch, sondern eher nach: Keine Ahnung, wir als Wissenschaftler werden hinterher schon eine Erklärung dafür finden. Denn die möglichen Gründe (allesamt erst noch Hypothesen) schienen auch ihn selbst nicht zu überzeugen: der Ausbruch eines Unterwasservulkans. Die Rückkehr des El-Niño-Wetterphänomens. Die sauberere Luft über den Meeren, weil viele Schiffe auf schmutzigen Treibstoff verzichten und dadurch weniger Abgase das Sonnenlicht davon abhalten, das Meer zu erwärmen.Woran kann das nur liegen, dass uns das ganze Klima so entgleist?Es ist wie bei jemandem, der einen Herzinfarkt hat und danach wissen will: Was war der Grund dafür? Die Zigaretten? Das fette Essen? Oder doch der ganze Ärger auf Arbeit? Die Antwort wäre doch eher: Das ganze Leben, alles zusammen. Genau so ist es mit dem Klima auch. In den zwölf Monaten von Februar 2023 bis Januar 2024 lag die globale Durchschnittstemperatur um 1,52 Grad höher als vor der Industrialisierung. Kein Wunder, dass sich da auch der Atlantik über Gebühr aufheizt, oder?Es mag bitter klingen, aber es ist wohl Zeit zu sagen: Glückwunsch, Sie haben Ihr 1,5-Grad-Ziel erreicht! Denn darauf zielte ja die ganze globale Klimapolitik: auf die Begrenzung der Erderwärmung bei 1,5 Grad über dem vorindustriellen Niveau. Bis 2100 sollte die Temperatur diese Marke nicht übersteigen, wir haben sie jetzt schon geknackt.Die Welt findet sich jetzt in der Lage von Eltern wieder, die die „Medienzeit“ ihrer Kinder begrenzen wollen. Darum kreist ja heutzutage ein Großteil der pädagogischen Aufmerksamkeit: Da einigt man sich also in langwierigen Diskussionen mit dem halbstarken Nachwuchs darauf, dass er pro Tag eine oder zwei oder auch drei Stunden auf dem Smartphone zocken darf. Und dann findet man heraus, dass der Teenager um drei Uhr früh aufsteht und schon vor Morgendämmerung mehr Zeit am Computer verbracht hat, als für den ganzen Tag vorgesehen war.Aber zurück zum Klima: Es wäre jetzt wohl der Moment gekommen, um innezuhalten und zu überlegen, was das denn eigentlich heißt. Welche Folgen der mehr oder weniger ungebremste Klimawandel jetzt schon hat, konnte man ja im vergangenen Jahr vielerorts erleben. Und wir sind erst bei 1,5 Grad. In welchem Zustand wäre eine Welt, in der es drei Grad wärmer ist?Klima? Klassenkampf!Aber bevor wir hier weiter von „Weltgesellschaft“ reden, sollten wir uns daran erinnern, worauf die Klimaforscherin Friederike Otto immer wieder hinweist. Sinngemäß sagt sie: Einen „Klimawandel“, den gebe es streng genommen gar nicht. Sondern nur eine soziale Krise katastrophalen Ausmaßes. Denn, so Otto: Die Reichen werden sich mit jedem Klima arrangieren können, nur die Armen kommen unter die Räder beziehungsweise sterben den Hitzetod, sehen ihr Hab und Gut weggeschwemmt oder verhungern in der Dürre.Dabei, so hat es etwas der Soziologe Steffen Mau kürzlich schön ausbuchstabiert, erfüllen die Armen, also Niedriglohnarbeiter oder Bürgergeldbezieher, die Pariser Klimaziele schon jetzt: Wer wenig Geld hat, stößt auch wenig CO2 aus. Deshalb wäre die wichtigste Lehre, die wir aus der galoppierenden Erd- und Meereserwärmung ziehen sollten, die: Hören wir auf, davon zu sprechen, „wir“ säßen alle im gleichen Boot. Und davon, dass „wir“ uns alle gleichermaßen ins Zeug legen müssten, um den Klimawandel einzubremsen. Nein, erst wenn den Profiteuren der Klimazerstörung, die sich vor den Folgen ihres Tuns leichtfüßig in Sicherheit bringen können, das Handwerk gelegt wird, würde echte Klimapolitik beginnen. Es ist echt höchste Eisenbahn.
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