Autofiktionale Literatur? Für KI kein Problem. Gut und schlecht gemeinte Klischees gibt es in Terabyte-Größe
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Wirklich neu sind Debatten über Künstliche Intelligenz ja nicht. Dass aber jede_r User_in, also Looser_in mit halbwegs geeignetem Endgerät auf Chatbots zugreifen kann, kam dann doch überraschend. Entsprechend groß ist seither die Aufregung. Unter anderem erscheint das menschliche Alleinstellungsmerkmal der Kreativität gefährdet, das betrifft auch den Bereich der Literatur. Und wenngleich es sich dabei aus der Fernsicht um eine Institution handelt, so bedient diese doch unterschiedliche Vorstellungen und Erwartungen. Nicht zuletzt verbinden sich damit verschiedene Modelle von Autorschaft, also auch vermeintliche oder tatsächliche Gefährdungen des menschlichen Beitrags zu ihrer Produktion. Unterschieden seien hier, ohne Anspruch auf Vollständ
;ndigkeit, fünf Vorstellungen von Literatur.Das (1.) Storytelling, das in meiner Jugendzeit als weitgehend obsolet gegolten hat, erlebt seit der Jahrtausendwende sogar im Bereich der Literatur für Gebildete ein unvorhergesehenes Revival, für das Moritz Baßler den Namen „Populärer Realismus“ geprägt hat: Erzählweisen, die ohne besondere Berücksichtigung ihrer sprachlichen Gestaltung gelesen werden. Für diesen Typ von Literatur dürften KIs wie ChatGPT beste Kompetenzen mitbringen, da sie dank ihrer Ausrichtung an Nachfolgewahrscheinlichkeiten die Erwartungen erfüllen, die das Publikum an solche Texte stellt.Insofern das Erzählschema von filmischen Produkten, etwa denjenigen sogenannter anspruchsvoller Serien bei Netflix, ein sehr ähnliches ist, schlägt die Gewerkschaft der Drehbuchautoren in Hollywood wohl nicht ganz unbegründet Alarm. Fraglich ist allerdings, ob damit ein spezifisches Problem menschlicher Kreativität berührt ist oder ob die Frage – so dringlich sie auch sei – nicht ebenso zu behandeln ist wie in anderen Bereichen der Arbeitswelt. Auch die Arbeitsplätze von Reinigungskräften werden ja etwa von Putzrobotern bedroht. Sie müssen dann halt Nischen finden, sich beispielsweise auf die Beseitigung von Spinnweben spezialisieren, an welche die Putzroboter (noch) nicht herankommen.Debatten zeichnen sich jedoch (2.) bei einem derzeit besonders populären Teilbereich des Storytellings ab: bei Texten, von Autobiografien bis zu Romanen, deren Protagonist_innen auf die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen zugerichtet werden. Auf die Produktion solcher Texte sind KIs, denen Klischees über die entsprechenden Gruppen in Terabyte-Größen zur Verfügung stehen, besonders gut vorbereitet. Man muss sie bloß noch dazu bringen, zwischen ungefähr gleich großen Massen von gut und schlecht gemeinten Klischees zu wählen – und weil sie dies von sich aus gar nicht können, bringen ihnen schlecht bezahlte Arbeiter in Kenia mit mühsamer Wörterstreich-Kleinarbeit bei, dass die gut gemeinten Klischees wahr, die schlecht gemeinten unwahr sind.Lyrics sind nicht einfach LyrikSo untadelig also in jüngster Zukunft die Produkte sein werden, wird mit ihnen allerdings doch ein Problem der Autorfunktion auftreten. Neuerdings wird nämlich sogar bei fiktionalen Texten davon ausgegangen, dass Produzent_innen von Geschichten über Menschen, die bestimmten Gruppen zugerechnet werden, ebendenselben angehören müssen. Der unschätzbare Vorzug Künstlicher Intelligenzen, keiner solchen Gruppe anzugehören, schlägt damit in einen buchmarkttechnischen Nachteil um. Jedenfalls solange die Kenianer_innen nicht als Mitautor_innen genannt werden – was ihnen eigentlich gebührte. Wahrscheinlich werden die KIs bald darauf verpflichtet, nur noch Geschichten über KIs zu schreiben.Unter „Lyrik“ sei hier (3.) eine Textsorte verstanden, in der ein Ich auf engem Raum von einer unverwechselbaren Erfahrung mit einer Blume, einem Menschen oder einem Wetterereignis berichtet und dabei die Tiefe seiner eigenen Seele bewundert. Weil den Verfasser_innen solcher Texte unterstellt wird, sie hätten selbst solche tiefen Seelen, wird die Autorfunktion in diesem Bereich besonders stark von KIs bedroht. Aus zwei Gründen ist gleichwohl Gelassenheit angebracht. Erstens können Menschen, derzeit noch, tiefe Seelen besser simulieren als KIs. Und zweitens können KIs, hoffentlich bald, tiefe Seelen besser simulieren als Menschen. Womit dann endgültig klar sein wird, dass davon zeugende Produkte nicht mehr veröffentlicht werden müssen. Phylogenetisch waren sie unverzichtbar für die Entwicklung der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts; ontogenetisch sind sie unverzichtbar für die Entwicklung von Subjekten in ihrem 14. und 15. Jahr. Die ersteren Produkte sind in Anthologien und Bibliotheken gut abrufbar – die letzteren gehören in verschließbare Poesiealben.In einem Genre haben (4.) solche Produkte, in transformierter Weiterentwicklung, die sich etwa auf die unverwechselbare Erfahrung einer Straße oder einer Jukebox ausdehnt, allerdings noch eine wichtige Funktion: im Popsong. Auch hier jedoch gibt es doppelten Anlass zur Entwarnung. Denn erstens scheint zumindest ChatGPT noch nicht kapiert zu haben, wie komplex solche Gebilde durchaus sein können, welche theologischen Paradoxien etwa in Songs von Nick Cave stecken. Und zweitens sind Lyrics eben nicht einfach Lyrik. Denn anders, als Feuilleton-Chefs und Akademie-Präsidenten vorgeben, die ihre Aufgeschlossenheit gegenüber der Popmusik demonstrieren wollen, sind Songs nicht ohne weiteres von singenden Stimmen zu entkoppeln und in Buchform tradierbar. Wenn sich aber Nick Cave entschließen sollte, eine ChatGPT-Parodie seiner Songs zu singen – wäre dies eben Pop.Bleibt (5.) Poesie im emphatischen Sinne einer sprachlichen Kunstform auf dem Stand der Gegenwart: Produkte aus Wörtern, die um der Wörter willen geschrieben und gelesen werden. Daran sind Computer seit über 60 Jahren beteiligt. Von ihren menschlichen Kollegen wurden sie dabei meist skeptisch – „Die Automaten lernen bekanntlich excellent, nur offenbar nicht dichten“, schrieb Hans Magnus Enzensberger 1967 –, aber eher unaufgeregt beobachtet. Denn im Modell moderner Poesie hat die Autorfunktion nur die pragmatische Rolle einer Signatur, ohne Signum eines unverwechselbaren kreativen Subjekts sein zu müssen. Allerdings entstand klassische Computerpoesie im Regelfall durch die Verlagerung der Autorposition in diejenige des Programmierers. In der Interaktion mit einem Sprach-Bot fällt hingegen sogar das Schreiben eines Quellcodes weg. Andere Formen der Kooperation mit diesem Schreibzeug werden aber schon ausprobiert. Man muss dann nur noch Konventionen dafür entwickeln, wie solche Ko-Autorschaften signiert werden können.