Es lohnt sich, eine Analyse der Entwicklungen im Sahel von einem nichtwestlichen Spezialisten aus der Region zu lesen. Moussa Tchangari ist Generalsekretär der zivilgesellschaftlichen Organisation „Alternatives Espaces Citoyens“ in Niger. Der schon 2017 geschriebene erste Teil seines Buches benennt die geopolitischen Interessengegensätze, die im Sahel aufeinandertreffen. Gerungen wird zwischen westlichen und chinesischen Konzernen um den Erdölreichtum des Tschadbeckens, in dem der Tschad und große Teile von Niger liegen, das aber auch weit nach Nigeria sowie in die Zentralafrikanische Republik, den Sudan, Libyen und Algerien ragt.
Den Mitte der 2000er-Jahre einsetzenden Wirtschaftskrieg konnte immer wieder China für sich entscheiden. Er begann im Sudan,
im Sudan, wo eine chinesische Gesellschaft zum Hauptförderer von Öl wurde. Das sei sogar die hauptsächliche Ursache des grausamen Sezessionskrieges und der Abspaltung des Südsudan gewesen, schreibt der Autor. Zudem hatten westliche Staaten keine effektive militärische Hilfe gegen die islamistische Terrorgruppe Boko Haram geleistet. Deren Aktionen zerstörten ab 2009 im Norden Nigerias staatliche Strukturen und griffen bald auch auf Niger und den Tschad über.Dass der Westen in eine Wirtschaftskrise schlitterte, habe Chinas Präsenz auch dort begünstigt. Allerdings hätten die Anschläge von Boko Haram die Ölförderung zunehmend behindert, was unter den gegebenen Kräfteverhältnissen im Interesse westlicher Konkurrenten gelegen habe, nicht aber im Interesse der Länder, deren Jugend auf das Wirtschaftswachstum durch den Erdölexport dringend angewiesen war. 2015 fügten Truppen Nigers und des Tschad Boko Haram auf nordnigerianischem Territorium eine entscheidende Niederlage zu. Da aber weder nigerianische noch europäische Truppen die verlassenen strategischen Positionen besetzten, erstarkte die Terrorgruppe erneut. Als der ehemalige nigrische Präsident Mohammadou Issoufou 2016 in Paris um militärische Unterstützung bat, habe der damalige Präsident François Hollande geantwortet, dass Frankreich nur an der Zusammenarbeit in Fragen der Migrationspolitik interessiert sei. Das, so Tchangari, bestärke den Verdacht, dass Boko Haram eine „Schachfigur in der Hegemonialstrategie der Westmächte“ sei.Vom IWF zu Boko HaramAndere Teile der Analyse widmen sich den regionalen Ursachen, weshalb sich bewaffnete islamistische Gruppen wie Boko Haram immer wieder durch die Rekrutierung junger Menschen regenerieren können. Der ursprüngliche „Nährboden“, auf dem die bewaffneten Gruppen gedeihen konnten, seien die „Strukturanpassungspläne“ gewesen, die dem Sahel seit den 1980er-Jahren von IWF und Weltbank verordnet wurden, weshalb auch die politischen Eliten des Sahel zur neoliberalen Wirtschaftsweise übergehen mussten. Dass dadurch immer größere Teile der Gesellschaft und insbesondere die Jugend von jeglichen wirtschaftlichen Perspektiven abgeschnitten wurden, brachte die zu Anfang der neunziger Jahre implementierte Demokratie ebenfalls zum Scheitern. Aber konnte man überhaupt von Demokratie sprechen, wenn die Korruption innerhalb der Exekutive bei Polizei, Justiz und Verwaltung immens blieb und das, was die Vereinten Nationen als Menschenrechte definieren, nicht zu praktischer Bedeutung gelangte?Im neuen, 2023 angefügten Teil zeigt sich Tchangari skeptisch, ob die seit 2021 in mehreren Sahelstaaten – auch in Niger – stattgefundenen Militärputsche ihre Versprechen halten werden. Die Parole der neuen Machthaber, totale Sicherheit im ganzen nationalen Territorium auf militärischem Wege zu erreichen, sei nicht realisierbar. Den bislang und noch immer stark tabuisierten Dialog mit den in Abhängigkeit von bewaffneten Gruppen geratenen Bevölkerungen hält er für unausweichlich. Und ohne einen spürbaren Anschub für die wirtschaftliche Entwicklung der jahrzehntelang Marginalisierten könnten diese auch weiterhin kein Vertrauen in nationalstaatliche Strukturen entwickeln.Tchangari beschreibt eindringlich, wie das bislang unaufhaltsame Vordringen Chinas und neuerdings auch Russlands den Westen nicht nur wirtschaftlich und militärisch im Sahel verdrängt, sondern auch autoritäre Entwicklungen weiter stärkt. Nicht zu vergessen die riesigen Probleme, die durch den Klimawandel verursacht werden, und die damit verbundene Verantwortung westlicher Staaten. So appelliert der Autor an die Europäer, der Region wirklich zu helfen.Placeholder infobox-1