Eigentlich darf eine Strafe erst vollzogen werden, wenn eine Straftat erwiesen und ein Urteil gesprochen ist. Bis dahin muss die Unschuldsvermutung gelten. Das hätte respektiert werden müssen, als im Januar von der israelischen Regierung Vorwürfe gegen die United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near-Est (UNRWA) erhoben wurden. Angeblich hatte das UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten Hunderte Anhänger oder gar Mitglieder der Hamas beschäftigt. Bis zu 19 UNRWA-Mitarbeiter hätten sogar am Terrorangriff auf israelische Zivilisten am 7. Oktober 2023 teilgenommen, hieß es.
Die wichtigsten Geberstaaten wie die USA, Großbritannien, die Schweiz, Österreich, Schweden, Japan und auch Deuts
auch Deutschland stellten umgehend ihre Zahlungen ein. Sie wussten sehr wohl, dass die gesamte Zivilbevölkerung im Gazastreifen von Hilfen mit Lebensmitteln, Medikamenten, medizinischem Gerät und Hygieneartikeln noch nie so abhängig war wie seit Beginn der israelischen Militäroffensive. Zwar ist nicht auszuschließen, dass sich unter den 32.000 palästinensischen UNRWA-Angestellten Hamas-Unterstützer und -Aktivisten befinden, was allerdings keine kollektive Bestrafung von Notleidenden rechtfertigt. Mit dem „temporären“ Aussetzen ihrer Zahlungen folgten diese Staaten faktisch dem Narrativ der extremen Rechten in Israel, wonach alle Bewohner Gazas mit der Hamas zu identifizieren seien und der Einsatz von Hunger als Waffe womöglich gerechtfertigt ist. Immerhin war die Europäische Union in dieser Frage gespalten: Spanien, Portugal und Irland erhöhten in dieser Situation prompt die Zahlungen an die UNRWA.Um ihre künftige Arbeit zu sichern, war diese genötigt, die Neutralität ihres Engagements in Gaza von einer unabhängigen Untersuchungskommission überprüfen zu lassen, die von der ehemaligen französischen Außenministerin Catherine Colonna (im Amt bis Januar 2024) geleitet wurde. Ihr vorliegender Bericht sagt aus, dass Israel keine Beweise für eine massenhafte Doppelaktivität von Palästinensern bei der UNRWA und der Hamas vorgelegt und diesbezügliche Behauptungen nicht zuletzt durch Folter Gefangener erzwungen habe. Die UNRWA lege Israel regelmäßig Namenslisten ihrer Beschäftigten vor – so Colonna –, sie solle aber künftig noch mehr Sorgfalt bei der Auswahl ihres Personals walten lassen. Ein noch nicht endgültig aufgeklärter Verdacht bestehe lediglich bei zwölf Personen. Zwei von ihnen seien tot, die anderen zehn vorläufig suspendiert.Die Arbeit der UNRWADie UNRWA deckt seit 1948 die Grundbedürfnisse nicht nur der unter israelischer Besatzung lebenden Palästinenser in Gaza und im Westjordanland, auch im Libanon, in Syrien und in Jordanien. Als Flüchtlinge registriert wurden zunächst die Opfer der „Nakba“, deren ständiger Wohnsitz zwischen dem 1. Juni 1946 und 15. Mai 1948 in Palästina lag und die ihren Wohnsitz wie ihre Existenzgrundlage durch den arabisch-israelischen Krieg von 1948/49 verloren hatten. Von Israel wie anderen Staaten wird kritisiert, dass die UNRWA ebenso Nachkommen dieser Flüchtlinge als solche anerkennt und versorgt, mittlerweile etwa sieben Millionen Menschen. Die deutsche Politologin und Nahost-Expertin Muriel Asseburg kann dem nicht folgen. Sie tritt dem Vorwurf entgegen, dass dadurch die Integration in den Exilländern behindert werde. Laut Völkerrecht verlieren weder Flüchtlinge noch deren Nachkommen ihren Flüchtlingsstatus, „bis eine dauerhafte Lösung gefunden ist. Damit soll auch die Einheit der Familie in lang andauernden Fluchtsituationen geschützt werden“.Sowohl in den besetzten Territorien als auch den Exilländern ist die UNRWA wichtigste Arbeitergeberin für palästinensische Frauen und Männer. Damit sichert sie nicht nur den Unterhalt von Familien. Sie ermöglicht zugleich die Selbstverwaltung in den Flüchtlingslagern. Mit Kleinkrediten kann sie in bescheidenem Maße wirtschaftliche Projekte unterstützen. Außer im humanitären Bereich hilft sie beim Aufbau von Schulen und anderen Ausbildungsstätten. So entstanden komplexe Strukturen, die durchaus als Keime eines künftigen Staates gesehen werden können.Israel verfolgt die Aktivitäten der UNRWA seit jeher äußerst kritisch, obwohl die Agentur eigentlich die Aufgaben übernimmt, für die es als Besatzungsmacht selbst zuständig wäre, etwa für die Ernährung wie medizinische und soziale Versorgung der besiegten Bevölkerung zu sorgen. Muriel Asseburg zitiert ein Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, das bereits 2017 festgehalten hat, dass Israels Politik „zielgerichtet und systematisch“ darauf abziele, für die palästinensischen Bewohner der Westbank ein „unwirtliches, abweisendes, entwicklungsfeindliches Umfeld“ zu schaffen und diese verdrängen zu wollen.Widerstand gegen Israels OffensiveIm Übrigen hat die Bundesregierung, als Israel seine Vorwürfe erhob, ihre Zahlungen an die UNRWA in Jordanien, im Libanon und in Syrien fortgeführt. Nunmehr will sie auch die Zuwendungen für die Palästinenser in Gaza und im Westjordanland wieder aufnehmen. Dort bleibt das Hauptproblem die schleppende Abfertigung der Hilfslieferungen durch die israelische Armee. Die nach wie vor angekündigte Offensive auf Rafah verschlimmert die Lage zusätzlich. Solange das so bleibt, sind kaum Lieferungen von Ägypten aus möglich.Müßig sind Dispute, ob Israel eine Apartheidpolitik betreibe oder gar dabei sei, einen Völkermord zu riskieren. Jede Apartheid und jeder Völkermord trägt ein eigenes Gesicht. Was in Gaza und im Westjordanland geschieht, ist nicht nur für die Mehrheiten im Globalen Süden Zeichen westlicher Doppelmoral. Selbst in einigen Ländern, die bislang zu den stärksten Unterstützern Israels gehörten, regt sich Widerstand. Die derzeitigen Proteste der akademischen Jugend an den prestigeträchtigsten US-Universitäten können sich zu einer ähnlichen Dimension ausweiten wie die Erhebungen gegen den Vietnamkrieg Ende der 1960er Jahre. Längst ist es absurd, hier Antisemitismus zu unterstellen.