„Vernunft und Gerechtigkeit“: Warum Sahra Wagenknechts Partei-Pläne aufgehen könnten
Gründung Zehn Bundestagsabgeordnete, ein Millionär und Diskretion bis zuletzt: In Berlin haben Sahra Wagenknecht, Amira Mohamed Ali, Christian Leye und Ralph Suikat ihre Pläne für eine neue Partei vorgestellt – und deren vier zentrale Themen
Der Andrang von Journalistinnen und Fotografen war riesig: Sahra Wagenknecht bei der Vorstellung des Vereins „Bündnis Sahra Wagenknecht – Für Vernunft und Gerechtigkeit“ in der Bundespressekonferenz.
Foto: Sean Gallup/Getty Images
Knapp drei Minuten dauert es, bis Sahra Wagenknecht zum ersten Mal „Corona“ sagt. Sie spricht von der Kürzungspolitik der Bundesregierung und den „Abermilliarden“, die diese hingegen für die Folgen von Fehlentscheidungen ausgeben müsse, etwa die „der Corona-Lockdowns“.
Die Dosierung der Themen wird für Wagenknecht eine der interessantesten Herausforderungen der kommenden Monate sein. Nicht unerheblich dürfte sich auswirken, dass die ehemalige Linken-Fraktionsvorsitzende selbst zu einer Gruppe von Menschen im Land gehört, die an die Corona-Zeit und ihre Ausgrenzung mit unverarbeitetem Schrecken denken. Wie groß diese Gruppe wirklich ist, lässt sich inmitten der gesamtgesellschaftlichen Verdrängung der Pandemie s
Verdrängung der Pandemie schwer sagen – und somit auch, wie hoch Wagenknecht, die sich gegen eine Corona-Impfung entschieden hatte und im Bundestag deshalb nicht ins Plenum des Parlaments durfte – Einlassungen zur Pandemie-Politik dosieren sollte.Wirtschaft, Gerechtigkeit, Frieden und „Freiheit“Bei der Vorstellung des Vereins „Bündnis Sahra Wagenknecht – Für Vernunft und Gerechtigkeit“, der die Gründung einer neuen Partei zu Beginn des Jahres 2024 vorbereitet, an diesem Montag in Berlin war der Corona-Anteil gering. Vom vor allem in der Corona-Zeit „extremen Konformitätsdruck“ sprach Wagenknecht noch, als sie illustrierte, was der Verein meint, wenn er neben „wirtschaftlicher Vernunft“, „sozialer Gerechtigkeit“ und „Frieden“ als viertes zentrales Thema „Freiheit“ auserkoren hat. „Rechtsextreme, rassistische und gewaltbereite Ideologien jeder Art lehnen wir ab“, heißt es im Gründungsmanifest, und weiter: „Cancel Culture, Konformitätsdruck und die zunehmende Verengung des Meinungsspektrums sind unvereinbar mit den Grundsätzen einer freien Gesellschaft.“Ähnlich verhielt es sich mit dem Komplex „Migration“: Einzig die Befürwortung von Asylverfahren an der EU-Außengrenze durch Wagenknecht markierte eine konkrete Differenz zur Linkspartei, fällt aber an Schärfe weit hinter den Kurs der SPD unter Bundeskanzler Olaf Scholz zurück. Im Manifest des Vereins finden sich folgende Worte: „Zuwanderung und das Miteinander unterschiedlicher Kulturen können eine Bereicherung sein. Das gilt aber nur, solange der Zuzug auf eine Größenordnung begrenzt bleibt, die unser Land und seine Infrastruktur nicht überfordert, und sofern Integration aktiv gefördert wird und gelingt. Wir wissen: Den Preis für verschärfte Konkurrenz um bezahlbaren Wohnraum, um Jobs mit niedrigen Löhnen und für eine misslungene Integration zahlen nicht in erster Linie diejenigen, die auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Wer in seiner Heimat politisch verfolgt wird, hat Anspruch auf Asyl. Aber Migration ist nicht die Lösung für das Problem der Armut auf unserer Welt. Stattdessen brauchen wir faire Weltwirtschaftsbeziehungen und eine Politik, die sich um mehr Perspektiven in den Heimatländern bemüht.“Bemisst man jenes Manifest und die Wortlaute der vier Vereinsmitglieder Wagenknecht, Amira Mohamed Ali, Christian Leye und Ralph Suikat bei der Pressekonferenz nach Chronologie und Gewichtung, so lässt sich der beabsichtigte inhaltliche Kurs der zu gründenden Partei gut erkennen.Eingebetteter MedieninhaltWer den aktuellen wirtschaftspolitischen Kurs der Bundesregierung falsch und vor allem für den Mittelstand gefährlich findet, die Verteilung von Einkommen und Vermögen in Deutschland für einen Skandal hält, Waffenlieferungen in Kriegs- und Krisengebiete ablehnt, auf eine Renaissance von Diplomatie als Werkzeug der deutschen Außenpolitik hofft und eine „zunehmende Verengung des Meinungsspektrums“ sowie eine Reglementierung von Sprache verspürt, der soll bald eine Partei zur Auswahl haben.Die linkspopuläre LeerstelleWagenknecht besetzt damit eine Leerstelle im deutschen Parteiensystem, die nur übersehen kann, wer entsprechende Hinweise von Politikwissenschaftlern, Sozialgeographen und anderen in den vergangenen Jahren ignoriert hat: Ob man sie nun linkskonservativ, kommunitaristisch oder linkspopulär nennt – den Mix aus bewahrender Gesellschaftspolitik und linker Ökonomie gibt es bisher auf keinem Wahlzettel zu finden.Dass diesem Ansatz pünktlich zur Vorstellung von Wagenknechts Parteiplänen eine Umfrage bis zu 27 Prozent Potenzial attestiert, sollte man nicht überbewerten – noch gibt es diese Partei nicht einmal –, kommt deren Initiatoren aber zupass: Für Alternativen mit Sieger-Image stimmt es sich leichter.Überhaupt wirken jene Initiatoren gerade beinahe überrascht, wie glatt der öffentliche Start des Projektes zu laufen scheint – sieht man vom angelaufenen politischen Skandalisierungsversuch von Wagenknechts Beschreibung des Gazastreifens als „Freiluftgefängnis“ab: Keine unabgesprochenen Indiskretionen, selbst die Gründung des Vereins „Bündnis Sahra Wagenknecht – Für Vernunft und Gerechtigkeit“ brachte erst spät der Stern in Erfahrung, die Linken-Wahlergebnisse in Hessen und Bayern fielen so desaströs wie vorhergesehen aus, ohne dass sich jemand aus dem Wagenknecht-Lager der Noch-Fraktion zu voreiligen großen Reden verleitet sah. Die scheidende Linken-Fraktionschefin Mohamed Ali, die noch vor Wagenknecht sprach, um wohl Kritik an der Personalisierung des Projektes einzudämmen, erklärte am Montag nüchtern, nicht einmal das Ausscheiden aus dem letzten Parlament eines westdeutschen Flächenlandes habe die Parteiführung über einen Kurswechsel nachdenken, sondern nur wieder alle Schuld „Sahra“ zuschieben lassen. Nunmehr bleibe nichts übrig als die Trennung.Zehn Bundestagsabgeordnete verlassen die LinkeZehn Köpfe zählt dieser Kreis der Bundestagsabgeordneten, die aus der Linkspartei austreten, jedoch einen Antrag auf einstweiligen Verbleib in der Linksfraktion gestellt haben, um deren geordneten Übergang in parlamentarische Gruppen zu ermöglichen und Mitarbeitern Zeit zu geben, sich auf den drohenden Arbeitsplatzverlust einzustellen. Bleibt dieser bisher zehnköpfige Kreis – ein Nachkommen von zwei bis drei weiteren Abgeordneten gilt als nicht ausgeschlossen – so diskret und einigermaßen verschworen, wäre dies ein Hinweis darauf, welche anderen Kreise jene medialen Indiskretionen hauptsächlich platzierten, für die die Linksfraktion der vergangenen Jahre so verlässlich stand.Die zehn Abgeordneten sind Teil eines weiteren Faktors, der einen Erfolg der Parteigründung in den Bereich des Möglichen rückt: ihr finanzielles Reservoir. Neben dem aus zehn fürstlichen Bundestagsdiäten resultierenden verfügbaren Einkommen und gut dotierten Buch- und Auftrittshonoraren der Namensgeberin könnte das Vermögen des Mitgründers, IT-Unternehmers, Millionärs und Umverteilungsbefürworters Ralph Suikat für Anschubfinanzierung sorgen. Zudem erhöht eine Parteigründung erst im Jahr 2024 die möglichen Summen, die der Partei aus der staatlichen Parteienfinanzierung zufließen könnten, wegen deren Berechnungsmodalitäten.Schatzmeister Ralph SuikatSuikat, der nach eigenen Angaben selbst den Kontakt zu Wagenknecht gesucht hatte, ist Schatzmeister des Vereins und will für eine „verantwortungsvolle und effiziente Verwendung von diesem anvertrauten Mitteln sorgen.“ Außerdem sagt er: „Spenden sind in der Anfangszeit ein ganz zentraler Faktor für unsere politische Arbeit.“ Die Voraussetzungen dafür, dass Kleinspenden in nennenswertem Gesamtumfang fließen, hat der Verein auf seiner Internetseite geschaffen. In der zeitlich verdichteten Gegenwart erschöpft sich politisches Engagement oft zwangsläufig in ein paar Klicks.Placeholder image-1Solche Klicks allerdings führen in Deutschland immer häufiger auf die Kanäle der AfD. Inwieweit Wagenknecht dem mit ihrer Youtube-Präsenz oder auf Tiktok Paroli bieten kann, wird mitentscheidend sein für die Frage, ob sich eine Hoffnung erfüllt, die inzwischen bemerkenswert oft auch von Wagenknecht-kritischen Stimmen zu hören ist: dass sie den Aufstieg der Rechtspopulisten erst einmal stoppt. Höher könnte die Anspruchshaltung nicht sein. Sie zeugt auch von einer gewissen Verzweiflung, gerade in linksliberalen Lagern. Doch Wagenknecht selbst hat sich diesen Anspruch zu eigen gemacht: „Selbstverständlich werden wir nicht gemeinsame Sache mit der AfD machen.“ Die neue Adresse solle vielmehr eine seriöse Adresse auch für Menschen sein, die zuletzt aus Wut und Protest die in Teilen rechtsradikale Partei gewählt haben.Hingegen gelte: „Die Linke ist nicht unser politischer Gegner.“ Sich selbst als Gegner von Wagenknecht & Co. versteht hingegen die neoliberale Arbeitgeber-Lobbyorganisation Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft: Fünf von ihr Entsandte halten in der Nähe der Bundespressekonferenz Journalisten schicke Transparente entgegen, auf denen steht: „Gründet Firmen, nicht Parteien!“
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.