Kann es je genug Reue sein?

Agenda 2010 Die Häme gegenüber der SPD weicht. Und den Marktradikalen geht die Muffe
Ausgabe 08/2017
SPD-Kanzlerkandidat Schulz inszeniert sich als volksnaher Heimkehrer aus Brüssel
SPD-Kanzlerkandidat Schulz inszeniert sich als volksnaher Heimkehrer aus Brüssel

Foto: Maja Hitji/Getty Images

Die Häme ist etwas Wundervolles. Denn boshafte, heimliche Freude speist sich ja oft aus einer tiefen Berechtigung. Berechtigterweise war das Reden über die sterbende SPD in den vergangenen Jahren oft ein hämisches. Reichte ja nur ein Stichwort. Agenda 2010. Diese Häme weicht gerade. Die SPD ersteht auf. Der Grund heißt Martin Schulz. Oder ist das alles nur ein Fake?

Gerade hat Der Postillon einen Text veröffentlicht mit der Überschrift „SPD läutet traditionelles linkes Halbjahr vor wichtigen Wahlen ein“. Üblicherweise folgten dann „traditionelle dreieinhalb arbeitgeberfreundliche Jahre“. Dass dennoch 20, 30 Prozent SPD wählten, ließ das Satire-Magazin einen Parteienforscher erklären: „Hier scheinen ähnliche psychische Prozesse abzulaufen wie bei einer vom Partner misshandelten Person.“ Irgendwie ist der Witz zu alt, als dass man noch über ihn lachen kann.

15 der vergangenen 19 Jahre war die SPD an der Macht, zwölf der letzten zwölf Jahre regierte die Union. Man kann darüber streiten, wer denn nun eine Rekonvaleszenz in der Opposition nötiger hat. Doch wenn sich der SPD-Kanzlerkandidat Schulz als Heimkehrer aus Brüssel inszeniert, der erzählt, was er alles im Deutschland des Jahres 2017 „nicht für möglich“ gehalten hätte, dann ist da eben auch all das, was möglich ist hierzulande, im Jahr 2017.

Zur Wirklichkeit gehören: Leute, Ende 30, die Kinder möchten, sich aber nicht trauen, weil sie immer nur befristet arbeiten. Der Altenpfleger aus Moers, 25 Jahre im Job, Selbstbeschreibung: Melancholiker. Weil die Diskrepanz zwischen dem, was er tun will, und dem, was er tun kann, ihn dazu macht. 40- bis 55-Jährige, deren Kinder noch im Haus und deren Eltern schon pflegebedürftig sind und die selbst psychisch erkranken. „Einiges, was vor einigen Jahren aus dem Ruder gelaufen ist“, hat Schulz all das genannt, als er der SPD-Arbeitnehmerkonferenz in Bielfeld von seinen Begegnungen erzählte. „Das Erfolgsmodell hat Risse bekommen“, sagte er über Deutschland. Und über die SPD: „Auch wir haben Fehler gemacht.“

Ist das zu wenig Reue? Genug Reue? Kann es je genug Reue sein?

Vielleicht reicht für den Anfang ein Blick auf die, die finden, das sei zu viel der Reue: der Ökonom Christoph Schmidt, Chef der Wirtschaftsweisen. Der hält es für einen „Grundpfeiler der Stabilität des Arbeitsmarktes“, dass 31,2 Prozent der Frauen und 11,7 Prozent der Männer hierzulande atypisch arbeiten. Oder der CDU-Wirtschaftspolitiker Michael Fuchs, der Schulz „Sozialpopulismus“ vorwirft. Den Wirtschaftsliberalen, vulgo „Marktradikalen“ ist schon lange nicht mehr so die Muffe gegangen. Nicht bei Sigmar Gabriel und Peer Steinbrück. Erst recht nicht bei Frank-Walter Steinmeier und Gerhard Schröder.

Ist es „Sozialpopulismus“, Firmen den Kampf anzusagen, die Heerscharen von Anwälten fürstlich entlohnen, damit sie Betriebsräte, Gewerkschaften und die Mitbestimmung ausschalten?

Sicher, Schulz‘ Andeutung einer längeren Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I ist nicht mehr als eine Andeutung. Klar, er könnte von der Erhöhung statt von „Stabilisierung“ des Rentenniveaus sprechen. Grundlose Befristung hätten SPD-Landesfinanzminister gerade im Tarifkonflikt des öffentlichen Dienstes abschaffen können, wo sich ihr Anteil an allen Befristungen seit 2004 auf 35,7 Prozent verdoppelt hat.

Aber nach dem Tarifkonflikt ist stets vor dem Tarifkonflikt. Im öffentlichen Dienst startet der nächste, für Bund und Kommunen, Ende Januar 2018, also kurz nach der Bundestagswahl.

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Geschrieben von

Sebastian Puschner

Stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter „Politik“

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

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