Kleiner Einblick gefällig, warum Oskar Lafontaine empfohlen hatte, bei dieser Bundestagswahl der Linkspartei im Saarland lieber keine Zweitstimme zu geben? Nun, der Mann, dem diese Zweitstimmen zugutekamen, weil er auf Platz eins der Landesliste im Saarland stand, heißt Thomas Lutze, die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen ihn. Der Verdacht: Urkundenfälschung. Er soll Mitgliederlisten frisiert und Beiträge für Neumitglieder selbst bezahlt haben, um auf Parteitagen Mehrheiten für sich zu organisieren. Inzwischen behauptet zudem ein Ex-Mitarbeiter Lutzes, der habe ihn aus Bundestagsgeldern als Schreibkraft beschäftigt, obwohl er nicht einmal einen Computer bedienen könne – tatsächlich sei er engagiert worden, um Mitglieder zu Parteiversammlungen zu chauffieren und ihnen Geld zuzustecken, damit sie für den Chef stimmen. Auch wenn der Bundestag Lutzes Immunität längst aufgehoben hat, gilt für ihn die Unschuldsvermutung. Aber musste die Linke mit diesem Spitzenkandidaten zur Wahl antreten? Lafontaine hatte sogar einen jungen Bewegungslinken, der sich Antirassismus und Klimaschutz auf die Fahnen schreibt, als Gegenkandidaten unterstützt – eine Mehrheit auf jenen saarländischen Mitgliederlisten aber stimmte für Lutze. Zur Stimmenthaltung aufzurufen, war nachvollziehbare Notwehr Lafontaines. Dennoch läuft nun ein Parteiausschlussverfahren gegen ihn.
Das erinnert an die Worte, die Petra Morsbach in einem Schwerpunkt dieser Zeitung zum Abstempeln von Kritikern als „Nestbeschmutzern“ (der Freitag 23/2021) schrieb: „Der Anschein wird mit größerer Leidenschaft verteidigt als die Sauberkeit selbst.“ Anschein verteidigen – das ist es auch, was jene in der Linken tun, die inbrünstig Sahra Wagenknecht bekämpfen. Sie soll wegen ihres Buches Die Selbstgerechten aus der Partei ausgeschlossen werden. In ihm argumentiert sie, dass Ideen wie die offener Grenzen für alle oder gendergerechter Sprache oft der Selbstprofilierung Bessergestellter dienten, nicht aber der Besserstellung Marginalisierter. In NRW hat die Landesschiedskommission den Ausschluss zwar nicht gewagt, Wagenknecht aber gerügt, denn – kein Witz: „ihre Formulierungen sind mitunter spöttisch“.
Demokratie bedeutet auch: Konflikte austragen
Das dürfte für die vom Rauswurf-Furor Ergriffenen ein wenig Balsam auf die empfindsame Seele sein, das Verfahren gegen Wagenknecht wollen sie nun vor die Bundesschiedskommission tragen. Doch ob es um die geht, die Wagenknechts Spott bejammern, Lafontaines Schlussfolgerung aus innerparteilichem Korruptionsverdacht nicht ertragen oder sich ein Grünen-Harmoniekonzert ohne Boris Palmers Zwischentöne wünschen: Ihr Gebaren ist „ein Ausdruck von Schwäche“, so hat es Ute Cohen in jenem Freitag-Nestbeschmutzer-Schwerpunkt treffend beschrieben und das richtige Gegenprogramm benannt: „Konflikte trage ich aus, persönlich und scharf.“
Dazu aber sind viele Jünger der Cancel Culture – was sonst ist es, jemanden aus einer Organisation tilgen zu wollen? – gar nicht in der Lage. Sie haben es sich heimelig eingerichtet in ihren Blasen mit Gleichgesinnten und scheuen jede inhaltliche Auseinandersetzung, wenn sie mit jemandem konfrontiert werden, der die Dinge ganz anders sieht. Dann heißt es lieber: Weg mit dem oder der!
Doch es lohnt, bereits in der eigenen Partei Ambiguitätstoleranz einzuüben – also mit Widersprüchen, Mehrdeutigkeit und Ungewissheit klarzukommen – es gibt von alledem in der heutigen Welt ja mehr denn je, was sich sogar produktiv machen lässt: Wer sich auf Streit mit der Genossin oder dem Freund einlässt, wenn es um soziale Folgen grenzenloser Migration geht, um Argwohn bezüglich Spätfolgen einer neuen Impfung oder um Zweifel am Sinn, Sprache stets zu gendern, ist gewappnet – für die Debatten da draußen, mit Unbekannten, ob am Wahlkampfstand oder am Stammtisch.
Für mich war einmal der Streit mit einem Reichsbürger aufschlussreich: Ich kann nicht garantieren, ihn von seinen Überzeugungen abgebracht zu haben. Verstanden aber habe ich damals, dass zumindest dieser Mensch sich nichts sehnlicher wünschte als ein Gespräch mit jemand anderem als sich selbst und dem Internet. Hätte ich seinen Rauswurf verlangt, der Wirt meiner Stammkneipe hätte ihn wohl vollzogen.
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