Parteigründung: Woher Sahra Wagenknecht weiß, worüber Deutschland so redet
Staßfurt Vernunft und Gerechtigkeit? Sahra Wagenknecht addressiert nicht nur die Angst vor dem wirtschaftlichen Abstieg. Zu Besuch bei zwei Auftritten – in Berlin und Sachsen-Anhalt
Ihre Partei für Deutschland: Das „Bündnis Sahra Wagenknecht“, kurz: BWS
Foto: Benjamin Zibner/Laif, Montage: der Freitag
Der Gegner hat sich früh und klar positioniert: Am Montagmorgen stehen fünf Leute in Warnwesten an der Spree und halten den zur Bundespressekonferenz strömenden Journalisten zwei Transparente entgegen: „Gründet Firmen, nicht Parteien“ steht über dem Kürzel der neoliberalen Arbeitgeber-Lobby Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft: INSM.
Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft
Kurz darauf nimmt der Firmengründer Ralph Suikat auf der Bühne der Bundespressekonferenz in Berlin-Mitte Platz. Zwischen vier frisch aus der Linkspartei Ausgetretenen. „Diese Entscheidung ist uns nicht leichtge fallen“, sagt Amira Mohamed Ali, scheidende Fraktionsvorsitzende der Linken – und Vereinsgründerin: Aus „Bündnis Sahra Wagenknecht
und Vereinsgründerin: Aus „Bündnis Sahra Wagenknecht – Für Vernunft und Gerechtigkeit“ soll Anfang 2024 eine Partei erwachsen. Eine Firma hingegen hat Mohamed Ali wohl bisher nicht gegründet, so viel zur Information der INSM. Für eine recht große aber hat sie gearbeitet, war Juristin und Vertragsmanagerin bei der ZF Friedrichshafen AG, weltweit führender Antriebs und Fahrwerktechnikhersteller.Christian Leye kennt den Betrieb, er war ja bisher wirtschaftspolitischer Sprecher der Linksfraktion. „Wir tun dies, weil uns politisch keine andere Wahl bleibt“, sagt er.Mit dem für so manche Partei typischen Lebenslauf aus Politikwissenschaft und Partei hat Sahra Wagenknecht – Dissertation magna cum laude in Volkswirtschaftslehre 2012 – an diesem Tag nur einen um sich geschart: Lukas Schön, einst Landesgeschäftsführer der Linken in NRW. Im Übrigen sitzen da auf dem Podium vier Westdeutsche neben der Frau aus Jena. Nun: Identitätspolitik spielt hier keine Rolle.Es geht um Wirtschaft, die INSM hat das schon verstanden. „Von Konzernen beeinflusste und gekaufte Politik und das Versagen der Kartellbehörden haben eine Marktwirtschaft geschaffen, in der viele Märkte nicht mehr funktionieren“, steht im Gründungsmanifest des Wagenknecht-Vereins, und: „Noch hat unser Land eine solide Industrie und einen erfolgreichen, innovativen Mittelstand.“Bei der Lesung: DDR und USAEs folgt das große Aber. Katastrophales Bildungssystem, marode Brücken, fehlende Lehrer, Kitaplätze und Wohnungen, Fachkräftemangel – „Und dann spart die Ampel radikal Gelder für die Qualifizierung von Langzeitarbeitslosen!“, ruft Wagenknecht in Berlin. Von um ihre Arbeit fürchtenden Industriebeschäftigten und dem wegen der Sanktionen teuer und dreckig über Indien und Belgien eingeschifften russischen Öl und Gas war da noch gar nicht die Rede.Von was sonst noch die Rede ist im Land abseits von Berlin-Mitte, hört Wagenknecht bei ihren Lesungen. Etwa bei der in Staßfurt, Sachsen-Anhalt, elf Tage vor dem Termin in Berlin. Die Straße, in der das Salzlandtheater liegt, heißt „Tränental“. Doch drinnen, im von einem Förderverein betriebenen Haus, lächelt nicht nur Sahra Wagenknecht.Wagenknecht liest aus „Die Selbstgerechten“26.000 Einwohner hat Staßfurt, südlich von Magdeburg, knapp eine halbe Stunde braucht dorthin der Zug. Das Auto zehn Minuten mehr. Der Parkplatz ist voll, manche kommen zu Fuß, der Eintritt kostet 27 Euro. Das Publikum ist fast durch die Bank älter als 50. Merklich mehr Frauen als Männer. 200 Plätze sind besetzt. „Das sieht so schön aus“, lächelt die Moderatorin vom Förderverein beim Blick aufs ausverkaufte Haus, Linken-Stadträtin ist sie zudem. Vor anderthalb Jahren habe sie einen Termin angefragt. Da war Die Selbstgerechten schon ein Jahr im Handel. Doch es gibt eine Taschenbuchausgabe vom Oktober 2022. Deren Vorwort Wagenknecht nun liest, wie sie ihre Youtube-Videos spricht: langsam.Im Oktober 2022 brannte die Brücke zur Krim, Russland bombardierte ukrainische Infrastruktur. Im Vorwort wendet Sahra Wagenknecht ihre Kritik an einem aus akademischen Milieus propagierten besseren Lebensstil, den man sich leisten können muss, auf die Frage von Waffenlieferungen an. Das ist ein Selbstläufer. Waren die mit „Selbstgerechten“ stets zuerst gemeinten Grünen doch die lautesten Befürworter, war ihr Argumente doch meist die Moral.In Staßfurt nicken und klatschen sie entsprechend viel. Doch als Mobilisierungsthema der Stunde lässt die anschließende Fragerunde den Ukraine-Krieg nicht gerade erkennen. Der Erste, fragend ein Herr: Ostdeutschlands Bruttoinlandsprodukt sei seines Wissens nach heute niedriger als das der DDR Ende der 1980er! Und ob China nicht einen besseren ökonomischen Plan für die Zukunft habe? Die Zweite, sie meint wohl das Positionspapier der Linken zur Bildung aus dem September: Schulnoten wollen sie abschaffen, wie irre! Der Dritte – das Gespräch kommt doch noch latent auf den Krieg: Deutschlands regierende Politiker – ferngesteuert aus den USA!Wie „rechts“ Wagenknecht ist, das fragen sich ja nun viele, und ob als „links“ noch gelten darf, wer in Fragerunden so spricht.Wagenknecht, das lässt sich sicher sagen, ist Dialektikerin. Und damit eine Linke.Ostdeutschen Mittelstand retten und Rechtschreibung büffelnErste Antwort: Ihres Wissens nach habe die DDR wirtschaftlichen Wohlstand anders bemessen, als es das BIP heute tut. Und es sei im Osten doch durchaus mittelständische Industrie entstanden! Die Vermögensungleichheit zur Erbengesellschaft im Westen bestehe natürlich fort. Aber jetzt macht die Ampel noch den jungen ostdeutschen Mittelstand kaputt!Der Osten: eine westdeutsche Erfindung? Wagenknecht hat ihren Dirk Oschmann gelesen. Zweite Antwort: Sie wolle ja beileibe kein preußisches Schulsystem! Aber manches, das wüsste man im Osten wohl besser, lernt man ohne Büffeln nie. Aus all ihren vielen Mails wisse sie – das mit der Rechtschreibung klappe im Osten immer noch besser, finden Sie nicht?Chinas Auto-Politik und Joe Bidens InvestitionsoffensiveDritte Antwort, cleveres China, und Deutschland „ferngesteuert aus den USA“? In Deutschland seien gewählte Politiker im Amt. Frei könnten die sich ja entscheiden. Für eine andere Außenpolitik; sich ein Beispiel nehmen an Frankreich, an dessen Eigenständigkeit. Oder an der „Diktatur“ China, nicht aber am politischem System! Pekings Auto-Politik sei „vernünftig“, und ebenso Joe Bidens Wirtschaftskurs: massive Investitionen in die heimische Infrastruktur, genau das bräuchten wir hier. „Deutsche Politiker sind keine Marionetten, bei denen einer an den Fäden zieht.“Dann, endlich, fragt ein Mittfünfziger im weißen Hemd, was dem Flüstern nach allen auf der Zunge liegt: „Wen würden Sie mir denn nun raten zu wählen, Frau Wagenknecht?“Sachsen-Anhalt wählt den Landtag erst 2026. Am 9. Juni 2024 steht die Europawahl an, im September folgen Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Bei allen vier soll die neue Partei antreten. „Ob wir es in allen drei Bundesländern schaffen, hängt von der Gründung von Landesverbänden ab“, lässt Wagenknecht in Berlin einen seltenen Moment leiser Restzweifel erkennen.Christian Leye will die Nichtwähler gewinnenSpenden brauche man, erklärt Christian Leye, eine größere Mitgliederzahl für den Verein nicht. Die der Partei solle von Januar an „langsam und sehr kontrolliert“ wachsen. Man wisse natürlich um die Anziehungskraft von Neugründungen auf „Glücksritter, Karrieristen und Menschen, deren politische Ansichten man nicht teilt“.Nicht beitreten, sondern wählen gehen sollen die Menschen. „In meinem Wahlkreis im Duisburger Norden haben das bei der letzten Landtagswahl nur noch 38 Prozent getan“, sagt Leye. Dass es dieses Zitat aus der Bundespressekonferenz kaum in die Medien schafft, zeigt wohl, wie weit entfernt doch der Duisburger Norden von Berlin-Mitte liegt. Vielerorts glaubten Arme nicht mehr an die Macht ihrer Stimme, fährt Leye fort. Die Interessen reicher, wahlfreudiger Kreise fänden so immer stärkeren Niederschlag in der Politik.Das also wollen sie ändern. Mit einer Art von moderner Kaderpartei, sicher nicht als klassische Massenbewegung. Mit einem sehr bekannten Namen und Gesicht, mit einem auf Wirtschaft, Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit beschränkten Programm, mit einem Spenden-Button im Internet und Videos auf Youtube. In Deutschland hat es einen solchen Ansatz bisher nicht gegeben. Aber es hat auch lange keine sich derart langfristig verfestigende soziale Ungleichheit mehr gegeben.Karl Marx und Ludwig ErhardEben darauf zielt das maßgeblich von Wagenknecht selbst geschriebene Gründungsmanifest in erster Linie ab. Es ist eine auf die Transformationsepoche der Gegenwart hin aktualisierte Synthese ihrer bisherigen Bücher, vielfach beschriebene Ost-West-Melange aus Karl Marx und Ludwig Erhard. Marktbeherrschende Konzerne entflechten, das Gemeinwohl als oberstes Ziel. Umverteilung über Steuerpolitik, von der Erben- zur Leistungsgesellschaft, bei hohen Löhnen und Renten. Innovative Schlüsseltechnologien „für eine klimaneutrale und naturverträgliche Wirtschaft der Zukunft“ statt „blinder Aktivismus und undurchdachte Maßnahmen“, die dem Klima nicht helfen und das Leben der Menschen verteuern.Wenn dieser Ansatz sich im kommenden Jahr erst einmal als Bremse des rechtsradikalen Aufstiegs entpuppt – es wäre ein Echo aus guter alter, sozialdemokratischer Zeit. Vielleicht auch zunächst der verträglichste Puffer – gegen die Unbill einer Gesellschaft, die um Wohlstand und Zukunft fürchtet wie nie.„Selbstverständlich werden wir nicht gemeinsame Sache mit der AfD machen“, sagt Sahra Wagenknecht in der Bundespressekonferenz in Berlin. Dass sie aber doch empfehle, „lieber vernünftige Politik zu debattieren“, statt immer über die Stöckchen jener Partei zu springen.In Staßfurt in Sachsen-Anhalt hält sie dann selbst noch ein Stöckchen hin. Reden könne ja jeder, wie er will, sagt Wagenknecht. Und wer „stottern“ möchte – bitte schön.In Reihe zehn des Salzlandtheaters, da flüstert eine Sitznachbarin: „Erst sagt sie, jeder, wie er mag, und dann macht sie sich doch übers Gendern lustig.“ Nicht jede Art von Dialektik ist der Weisheit letzter Schluss.
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