Als Kollaborateure inhaftiert: Die Geschichten von Ukrainern, die im Gefängnis landeten
Reportage Strafgefangene, die in der Ukraine wegen „Kollaboration und Beihilfe für den Aggressor-Staat“ Russland langjährige Haftstrafen absitzen, stellen sich dem Gespräch. Nicht alle wollen anonym bleiben, sondern ihr Schicksal seit 2022 schildern
Dieser Mann wurde wegen Hochverrats zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt. In Untersuchungshaft tätowierten ihm Zellengenossen das Wort Ork auf die Stirn, ein abwertendes Wort, mit dem Ukrainer russische Soldaten bezeichnen.
Foto: Misha Friedman
Eine Frau sagt, ihr Mann habe über ihr Mobiltelefon heimlich Karten an die Russen geschickt, eine andere wurde Opfer eines Online-Flirts, weil sich herausstellte, dass sie sich mit einem russischen Geheimdienstler austauschte. Beide sitzen in Haft und erzählen im Besuchsraum eines Gefängnisses ihre Geschichte. Sie tragen Häftlingskleidung aus dicken grauen Wintermänteln und einem über dem Haar geknoteten Kopftuch. Bei den Männern ist ein brauner Overall Vorschrift.
Die meisten hier verbüßen Strafen, weil sie mit dem Feind „zusammengearbeitet“, vor allem Informationen über ukrainische Truppen weitergegeben haben sollen. Nach Angaben des Geheimdienstes SBU gab es bisher mehr als 8.100 Strafverfahren wegen „Kollaboration und B
ben sollen. Nach Angaben des Geheimdienstes SBU gab es bisher mehr als 8.100 Strafverfahren wegen „Kollaboration und Beihilfe für den Aggressor-Staat“. Wer deshalb verurteilt wird, muss die Strafe in bestimmten Gefängnissen verbüßen und wird zumeist von anderen Häftlingen ferngehalten.Dass Korrespondenten der Zugang zu diesen Haftanstalten gewährt wird, ist an die Bedingung gebunden, deren Standort auf keinen Fall publik zu machen. Einige der Häftlinge lehnen es ab, interviewt zu werden, andere lassen sich nur unter der Bedingung befragen, dass sie anonym bleiben. Wieder andere wollen offen sprechen und sich fotografieren lassen. Die meisten Abtrünnigen auf hoher Ebene haben sich längst nach Russland abgesetzt, sodass hauptsächlich Täter im Gefängnis sitzen, die kaum politische Verantwortung trugen.Weitergabe von Koordinaten an die russische ArmeeMan stoße in Haft selten auf Mitgefühl, sagt ein Gefangener, der eine zwölfjährige Haftstrafe verbüßt und sich bereit erklärt, fotografiert zu werden, aber seinen Namen nicht preisgeben will. Er sei während der Untersuchungshaft von seinen Zellengenossen angegriffen worden. Sie tätowierten ihm das Wort „Ork“ – eine in der Ukraine übliche abwertende Bezeichnung für russische Soldaten – auf seine Stirn.Dabei fällt die Schwere der angelasteten Vergehen unterschiedlich aus. Einige haben eindeutig das Leben von Ukrainern aufs Spiel gesetzt, indem sie Koordinaten an die russische Armee weitergaben, andere wie eine Frau, die zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde, war während des Referendums vom September 2022 in Cherson über einen Beitritt zu Russland behilflich. Der Fall verweist auf schwierige Entscheidungen, wie sie Menschen treffen müssen, wenn sie einer Besatzungsmacht gegenüberstehen, die behauptet, sie werde bleiben. Jede Geschichte ist anders, aber zusammengenommen deuten sie auf ein verbreitetes Phänomen dieses Krieges: das Schicksal der „Moskauer Helfer vor Ort“.Anjuta Holomb zum Beispiel erledigte einen Auftrag bei der Bank in Tschassiw Jar, nahe der Front im Donbass, als ukrainische Sicherheitsleute sie im Dezember 2022 verhafteten. Sie durchsuchten das Haus der 30-Jährigen und fanden Screenshots von Karten, auf denen Positionen ukrainischen Militärs markiert waren. Der Mann von Anjuta Holomb wurde ebenfalls festgenommen. Sie hatte ihn 2019 kurz nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis geheiratet, wo er fünf Jahre Haft wegen „Zusammenarbeit mit der Donezker Volksrepublik“ absitzen musste. Sie habe mit ihm nie über Politik gesprochen und sich ganz auf die Erziehung ihrer 2021 geborenen Tochter konzentriert. „Natürlich wollte ich Teil der Ukraine sein, aber die Hauptsache war, dass es Arbeitsplätze gab“, erzählt Holomb.Im Juni 2022 sei der Schwiegervater bei einem russischen Luftangriff getötet worden, trotzdem habe ihr Mann Fotos von seinem Mobiltelefon an ein „Mädchen in Donezk“ geschickt, von dem die ukrainischen Behörden annahmen, das es für den russischen Geheimdienst arbeitete. Das kompromittierende Material sei auch im Speicher ihres Telefons gefunden worden, das ihr Mann unter dem Vorwand benutzt habe, darauf zu spielen. „Ich wusste nichts davon, aber er hat gegen mich ausgesagt, damit wir als Familie ausgetauscht werden und nach Russland können.“ So habe auch sie alles zugegeben, sagt Anjuta Holomb, weil sie das Gefühl hatte, keine Wahl zu haben.Das Urteil: 15 Jahre Haft. Derzeit darf sie die noch mit ihrer zweijährigen Tochter verbringen. Nach dem dritten Geburtstag wird ihr das Kind weggenommen. „Alle waren schockiert über das Urteil. Meine Mutter hat einen Anwalt eingeschaltet, der Berufung einlegte – ohne Erfolg.“ Sie habe nun unterschrieben, bei einem Gefangenenaustausch nach Russland entlassen zu werden.Placeholder image-1Viele Gefangene bestehen darauf, dass ihr Handeln falsch verstanden worden sei und sie unter Druck gesetzt wurden, Geständnisse zu unterschreiben. Valentyn Moroi, ein 52-Jähriger aus Slowjansk, sagt, er habe lediglich Fotos des Materiallagers, in dem er zu tun hatte, an seinen Chef geschickt, der sich in Russland aufhielt, um zu beweisen, dass alles sicher sei. Der SBU habe das als Beweis dafür gesehen, dass er geheime Informationen an den russischen Geheimdienst weitergegeben habe.Einige geben sich als kompromisslose Befürworter Russlands zu erkennen. „Meine Eltern haben mich zum Kampf gegen den Faschismus erzogen, und hier gibt es Faschismus“, sagte der 57-jährige Juri Zybulski aus Bachmut, der wegen Hochverrats zu 13 Jahren Haft verurteilt wurde. Er gab zu, Informationen über ukrainische Truppenbewegungen gestreut zu haben.Oksana Kuzmytsch hingegen meint, sie sei eine entschiedene Pro-Ukrainerin. Ihr Mann kämpfte, als der Konflikt im Donbass 2014 ausbrach, gegen die Separatisten, konnte sich danach jedoch nur schwer wieder zurechtfinden und starb bald. Die 47-Jährige, die eine fünfjährige Haftstrafe verbüßt, war in der Siedlung Nowooleksandriwka nahe Cherson geblieben, als die russische Armee zu Beginn des Krieges dorthin vorstieß. Sie sei aus Sorge um ihre Mutter nicht geflohen, denn die sei fast gelähmt. Ende September 2022 dann veranstaltete Russland in dieser Region ein Referendum, um sie zu einem Teil Russlands zu machen. Kuzmytsch wurde für eine bescheidene Bezahlung angeboten, bei der Organisation zu helfen. „Wir hatten kein Geld, also habe ich mich bereit erklärt, eine fliegende Wahlurne zu übernehmen, das war’s.“ Eine Woche später kehrte die ukrainische Armee in Teile von Cherson zurück.Viele von Russlands lokalen Unterstützern setzten sich ab, aber Kuzmytsch blieb. Sie glaubte, nichts Unrechtes getan zu haben, bis sie zusammen mit drei anderen Frauen, darunter der Direktorin des örtlichen Friedhofs, verhaftet und wegen Beihilfe zu einem „illegalen Referendum“ angeklagt wurde. Kuzmytschs Tochter Olha, die in Polen lebt, meint dazu: „Meine Mutter war stets pro-ukrainisch. Wenn sie ihr Mobiltelefon überprüft hätten, wären sie auf unsere Chats gestoßen, in denen wir uns wenig Schmeichelhaftes über Russen schrieben.“ Seit sie ihre Mutter im Dezember erstmals seit der Verurteilung für ein kurzes Telefonat sprechen durfte, ist sie besorgt. Sie bete für ihre Freilassung.Die Frau aus Kiew und der Mann vom FSBWährend die meisten Gefangenen aus dem Donbass oder Orten in Frontnähe stammen, kommt eine Frau aus Kiew, die sich bereit erklärt, ihre Geschichte nur unter der Bedingung absoluter Anonymität zu schildern. Sie berichtet, in den ersten Kriegstagen mit einem Mann gechattet zu haben, der sich als Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes FSB vorstellte. Sie habe unter dem Stress des Krieges gelitten und die Ukraine unbedingt verlassen wollen. „Wir haben über alles Mögliche geredet, über Bücher etwa, doch dann kam es dazu, dass wir flirteten“, erinnert sie sich und spricht leise, mit spürbarer Angst. Der Mann schlug vor, dass sie nach Russland emigrieren und dafür einen Pass erhalten könne. Auch deutete er eine mögliche Romanze an. Zunächst müsse sie freilich bestimmte Orte rund um Kiew fotografieren. „Ich gab ihm zu verstehen, dass ich die Ukraine doch nicht verlassen wolle, woraufhin er anfing, mich zu erpressen. Das Überraschendste war, wie sich sein Ton innerhalb von Sekunden änderte.“ Am Ende wurde sie wegen illegaler Weitergabe von Informationen laut Kriegsrecht zu acht Jahren Haft verurteilt. „Meine Familie hat mich verstoßen, meine Freunde kehren mir den Rücken. Nur mein Mann hat seine Hand ausgestreckt und mir vergeben.“Viele Häftlinge erklären, sie hätten Dokumente unterzeichnet, um nach Russland gehen zu können. Manche haben immer davon geträumt, dort zu landen, andere erkennen das als einzige Chance, um vor Ablauf ihrer Haftstrafe freigelassen zu werden. „Jeder Fall muss separat behandelt werden“, sagt Oleksiy Danilow, Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrats der Ukraine. Wenn Russland ein Angebot mache und ukrainische Gefangene einen Austausch wünschten, wäre man grundsätzlich bereit, sie für Ukrainer ziehen zu lassen, die in russischen Gefängnissen festgehalten würden.Placeholder infobox-1
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