Der Westen versucht, den Ukraine-Krieg stillschweigend zu vergessen

Meinung Die täglichen Gräueltaten verschwinden zunehmend aus den Schlagzeilen. Die Menschen wollen nichts mehr vom Krieg hören. Doch ohne große Opfer, Kampf und Not ist das russische Machtsystem nicht zu bezwingen, meint Michail Schischkin
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War da was? Der Westen will Ruhe und Bequemlichkeit – da passt der Krieg in der Ukraine schlecht ins Bild
War da was? Der Westen will Ruhe und Bequemlichkeit – da passt der Krieg in der Ukraine schlecht ins Bild

Foto: Alexey Furman/Getty Images

„Auf der Titelseite – Krieg, auf der letzten Seite – das Kreuzworträtsel.” An diese Zeile aus meinem Roman „Das Licht und die Dunkelheit“ musste ich denken, als ich kurz nach der russischen Invasion der Ukraine in einem Zug reiste.

Mir gegenüber saß ein Passagier, der eine Zeitung las: Auf der Titelseite ging es um Krieg; auf der letzten Seite stand das Kreuzworträtsel. Seither ist Zeit vergangen und die täglichen Gräueltaten verschwinden zunehmend aus den Schlagzeilen, obwohl die Auseinandersetzungen jeden Tag brutaler werden. Aber niemand im Westen möchte noch etwas vom Krieg hören – die Menschen sind des Schreckens und der Solidarität müde. Sie wollen Frieden, keine Preiserhöhungen. Sie wollen ein ruhiges Leben und einen schönen Urlaub.

Es war nicht das erste Mal, dass mein Schreiben wegen kommender Schrecken Alarm schlug. Vor der Annexion der Krim-Halbinsel nutzte ich eine Analogie zum russischen Märchen Teremok – deutsch: Das Tierhäuschen –, um Europas unsichere Zukunft zu beschreiben. Es waren einmal einige Waldtiere, die zusammen in einem gemütlichen kleinen Haus wohnten – einem Teremok. Eines Tages klopfte ein Frosch an die Tür. „Klopf, klopf! Wer wohnt in diesem Teremok? Lasst mich herein, ich würde gern bei euch leben.” Die Tiere ließen den Frosch herein, und alle waren sich einig, dass sie ein glückliches und gemütliches Heim hatten. Sie ließen auch noch Kyward, den Hasen, und Reynard, den Fuchs, herein – im Teremok ist Platz für alle. Aber dann kam Bruin, der Bär, vorbei. So sehr er es auch versuchte, er passte nicht ins Häuschen. Da gerät er in Wut und setzte sich auf das Häuschen. Das war das Ende des Teremok – und des Märchens.

Wellen des russischen Patriotismus

Doch meine Warnungen blieben unbeachtet. 2014, kurz nach der Annexion der Krim, schrieb ich mit wachsender Dringlichkeit, dass „es im 21. Jahrhundert keinen Krieg mehr gibt, der weit weg und örtlich begrenzt ist. Jeder Krieg ist heute ein europäischer Krieg. Und dieser europäische Krieg hat bereits begonnen.” Ich warnte davor, dass Wladimir Putins Annexion der Krim „eine Welle des Patriotismus hervorbringen wird. Früher oder später wird diese Welle brechen, und dann wird Putin neuen Wind brauchen.” Ich schrieb darüber, wie die Jahre chronischer Instabilität in den Balkanländern zu lähmend hoher Migration in die europäischen Länder führen würde; mit einer „unvorstellbar angestiegenen Flüchtlingswelle aus der Ukraine”.

Damals gab es noch eine Chance, den Aggressor zu stoppen. Doch Politiker:innen in Europa verschlossen die Augen gegenüber der Realität, um sich bei den Wähler:innen beliebt zu machen. Auch damals wollten die Wähler:innen Frieden; Arbeitsplätze; keine Preiserhöhungen und einen schönen Urlaub. Korrupte russische Experten bestanden darauf, dass wir Putins Perspektive verstehen und Zugeständnisse machen sollten.

Und heute stehen wir da mitten in einem europäischen Krieg und vor einer nie dagewesenen Flüchtlingswelle aus der Ukraine und fragen uns, wie unsere Politiker:innen so blind sein konnten. Niemand hört mehr auf Schriftsteller:innen. Die einzige wahre Lektion, die wir aus der Geschichte lernen können, ist, dass die Geschichte nichts lehrt.

In Deutschland sammelten Intellektuelle tausende Unterschriften für eine Petition, in der sie ihre eigene Regierung aufforderten, Waffenlieferungen an die Ukraine zu stoppen, weil sie zu einem dritten Weltkrieg führen könnten. „Wir wollen eine Politik des Friedens, nicht des Krieges“, schreiben sie. Aber der dritte Weltkrieg hat bereits begonnen. Er begann 2014. Wie kann man die Blindheit von Leuten kurieren, wenn sie blind sein wollen?

Von realen und falschen Zaren

Die Frage ist, wie und wann wird dieser Krieg enden? Der Krieg gegen das nationalsozialistische Deutschland endete nicht mit Hitlers Tod, sondern mit einer verheerenden militärischen Niederlage. Dass Putin eines Tages stirbt, ist unvermeidlich, eine russische Niederlage dagegen nicht.

Die Frage ist letztlich eine der Glaubwürdigkeit. Manche Zare sind real, andere nur Fake. Wenn das Heilige Russland sein Territorium ausweitet und andere Völker sich dem Autokraten in Moskau beugen, hält die unterworfene Bevölkerung, die sich abmüht und kämpft und heldenhaft ihr Blut für das heilige Vaterland vergießt, dies für einen Segen Gottes. Und dann ist es nicht von Bedeutung, wie der Zar an die Macht gekommen ist oder wie er seine Untertanen regiert. Er kann Millionen von ihnen abschlachten, tausende Kirchen zerstören und Priester exekutieren. Es zählt allein, dass der Zar real ist, denn dann wird der Feind zittern und das Heilige Land vergrößert. So war es bei Stalin.

Andersherum werden militärische Niederlagen und selbst der Verlust eines kleinen Teils des Heiligen Landes von den Untertanen des Zars als klares Zeichen gedeutet, dass der Zar nicht gesegnet ist – dass er ein unrechtmäßiger Fake ist. Hat er den Krieg gegen Japan verpatzt? Ist es ihm nicht gelungen, die Tschetschenen zu unterwerfen? Wenn das so ist, gilt der Mann auf dem Thron als Hochstapler, der sich nur als Zar ausgibt. Beispiele dafür sind der letzte Zar des Russischen Reiches, Nikolaus II., und der erste russische Präsident, Boris Jelzin.

Putin legitimierte seine Präsidentschaft durch die Rückgewinnung der Krim. Jetzt aber geht diese Legitimierung durch seine Unfähigkeit verloren, gegen die Ukraine zu gewinnen. Der nächste Zar wiederum wird sich durch Siege im Krieg gegen die Welt beweisen müssen. Und wenn für den jetzigen Putin die Drohung, taktische Atomwaffen einzusetzen, nur ein Aspekt hybrider Kriegstaktik ist, könnte ihr Einsatz für den nächsten Putin ein notwendiges Instrument sein, um seine Macht zu sichern.

Der nächste Putin wird auch nicht mehr als ein Schauspieler sein, der an seiner Rolle nichts ändern kann. Seine Rolle wird durch die gesamte russische Machtstruktur vorgegeben, die nicht interessiert, wie viele Menschen in der Ukraine oder in Russland oder wo auch immer sterben; Sie kümmert weder, wie viele Ressourcen sie verbraucht, noch die Zahl der Waffen, die sie einsetzt, oder die Höhe der Zahl der militärischen Opfer. Und wenn die Lebensqualität in Russland sich verschlechtert? Dann sei es so – das Regime hat sich nie besonders darum geschert, ob sein eigenes Volk glücklich ist.

Alte Gesellschaftsstrukturen leben weiter

Dabei hat niemand, der Teil dieser Machtstruktur ist, Angst, den Westen anzugreifen. Wovor sollten sie schließlich Angst haben? Was folgt, wenn eine Rakete auf dem Gebiet eines Nato-Mitglieds landet? Mehr Treffen, Statements, Erklärungen, Forderungen nach Frieden? Es ist höchste Zeit, dass die freie Welt realisiert, dass sie nicht gegen einen verrückten Diktator kämpft, sondern gegen ein autonomes und sich selbst regenerierendes aggressives Machtsystem.

Die alte Gesellschaftsstruktur der russischen Autokratie wurde vom Warenhaus der Geschichte über Jahrhunderte erhalten und streift ihre Haut nur ab, um in einer neuen Verkleidung zurückzukehren: wie das mongolische Khanat der Goldenen Horde im Mittelalter, das Zarenreich von Moskau, das Reich der letzten Zarenfamilie Romanow, Stalins kommunistische Sowjetunion oder in jüngster Zeit Putins „gelenkte Demokratie“. Und jetzt häutet sich die Russische Föderation erneut. Was wird aus den unversehrten Fundamenten der unbesiegten Militärdiktatur hervorgehen? Könnte es eine freie konstitutionelle Demokratie sein, die bereitwillig auf Nuklearwaffen verzichtet? Hört sich das wahrscheinlich an?

Vor dem Zweiten Weltkrieg wollten die Leute auch Frieden, keine Preissteigerungen und schöne Ferien. Die Wähler:innen hofften, dass ihre eigenen demokratischen Regierungen, etwa in Frankreich und Großbritannien, Hitler mit einer Politik des Friedens anstatt des Krieges begegnen würden. Was dann folgte, ist Geschichte, zusammengefasst in Winston Churchills schonungslos ehrlicher und tragischer Botschaft an die Wähler:innen : „Ich habe nichts weiter anzubieten als Blut, Schinderei, Tränen und Schweiß.“

Früher oder später müssen ähnliche Ansagen gemacht werden – statt auf schöne Ferien müssen sich die europäischen Wähler:innen auf große Opfer, Kampf und Not einstellen, weil das der Preis ist, den wir für den Frieden zahlen müssen.

Michail Schischkin ist ein russischer Schriftsteller. Er hat zahlreiche wichtige Preise gewonnen, wie den russischen Booker-Preis, den russischen nationalen Bestseller-Preis und den russischen Big-Book-Preis. Er lebt seit 1995 in Zürich und besitzt die Schweizer Staatsbürgerschaft

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Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

Michail Schischkin | The Guardian

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