Klassik Die Dirigentin Joana Mallwitz begeistert Berlin. Vergleiche mit Cate Blanchetts Lydia Tár kontert sie damit, den Film noch nicht gesehen zu haben – aus gutem Grund
„Das nächste große Ding“, so warb das Konzerthaus Berlin für Joana Mallwitz
Foto: Simon Pauly
Seit Monaten prangte das Bild von Joana Mallwitz auf Plakatwänden in ganz Berlin und kündigte sie als neue Chefdirigentin des Konzerthauses an. Sie sei, so wird verkündet, „das nächste große Ding“. Eben noch war sie in der Hauptstadt kaum bekannt. Jetzt, sagt sie, könne sie nicht mehr unerkannt zum Supermarkt oder Bäcker.
„Der Anlauf war gewaltig“, erinnert sich Mallwitz, die ihr Antrittskonzert Ende August gab. „Ich musste alles von mir wegschieben, mich sozusagen retten, indem ich mich darauf konzentrierte, die Musiker kennenzulernen, oder darauf, wie ich Takt 17 einer bestimmten Symphonie dirigieren will.“
Mit einem gewissen Unbehagen versucht Mallwitz, die Begeisterung zu erklären, mit der ihre Ernennung aufgenom
rnennung aufgenommen wurde. Da ist zum einen ihre Jugend. Sie begann ihre Karriere mit 19 Jahren und ist heute, mit 37 Jahren, die mit Abstand jüngste Musikdirektorin an der Spitze eines Hauses in Berlin mit seinen sieben großen Orchestern und drei Opernhäusern.Hinzu kommt die Tatsache, dass sie eine Frau ist. In den mehr als 300 Jahren, in denen die Stadt ihren globalen Status als blühendes und einflussreiches Musikzentrum unter Beweis gestellt hat, ist es das erste Mal, dass die Spitzenposition eines führenden Berliner Orchesters an eine Frau vergeben wurde.Vergleiche mit Cate Blanchetts Lydia TárUnd dann sind da die Vergleiche zwischen Mallwitz und Lydia Tár – der Chefdirigentin eines großen Berliner Orchesters, die von Cate Blanchett in Todd Fields Psychodrama gespielt wird. Sogar von einem angeblichen Mallwitz-„Tárketing“ durch die Marketingabteilung des Konzerthauses war die Rede. Sie erwidert elegant: „Ich weiß, dass es lächerlich ist. Ich möchte den Film wirklich sehen und ich verehre Cate Blanchett, aber es war alles so stürmisch, dass ich dafür bisher keine Zeit hatte.“„Aber die Vergleiche zwischen mir und ihr – na ja, es sind die Haare, oder? Um ehrlich zu sein, sagen die Leute schon seit 20 Jahren zu mir, dass ich und Blanchett uns ein bisschen ähnlich sehen. Und wissen Sie, ich bin sicher, sie hat keine Ahnung, dass es mich gibt.“Freunde haben ihr genug über den Film erzählt, dass sie sich fragt, ob es „eigentlich eine gute Sache“ ist, mit der fiktiven Tár, einer hochmütigen, paranoiden Autokratin, verglichen zu werden. Musiker, die unter Mallwitz arbeiten, sagen, ihr fehle jegliche Hybris. „Absolut bescheiden, ganz und gar der Musik untertan“, so beschreibt sie eine Harfenistin des Nürnberger Staatstheaters. Als Mallwitz dort im Juli nach fünf Jahren als Generalmusikdirektorin abtrat, kamen 65.000 Menschen zu einem emotionalen Open-Air-Abschiedskonzert.Überschwängliche KritikenDie Berliner Musikkritiker, normalerweise nicht für Lobeshymnen bekannt, sind ungewöhnlich überschwänglich. Die Rezensentin ihres Konzerthaus-Debüts in der BZ beschrieb ihren Dirigierstil als „Hochspannung“, ihre Prokofjew-Interpretation als „erfrischend rau und risikobereit“ und konstatierte, sie habe den „galoppierenden jugendlichen Furor“ von Kurt Weills Berliner Sinfonie entfesselt. Die Süddeutsche schrieb, sie sei eine „Kämpferin des emotionalen Augenblicks“. Der Spiegel bezeichnete Mallwitz als „Kontrapunkt zum antiquierten Bild des Maestros“, das von Galionsfiguren wie dem 80-jährigen Daniel Barenboim verkörpert wird – oder seinem kürzlich angekündigten Nachfolger an der Staatsoper und ehemaligen Rivalen, dem 64-jährigen konservativen Schwergewicht Christian Thielemann.Diplomatisch versiert antwortet sie: „Wissen Sie, es gibt so viele andere Menschen, Männer und Frauen, die einen Kontrapunkt zum antiken Maestro bilden.“Sie habe Thielemann gratuliert, sagt sie und erinnert sich an die Freude, die sie als Studentin vor zwei Jahrzehnten in Berlin empfand, als sie in seine Proben und die anderer großer Dirigenten wie Sir Simon Rattle schlüpfte und feststellte, dass Kollegen im Parkett saßen und ihnen zusahen. „Ich dachte: ‚Das ist erstaunlich‘ – diese Art von Unterstützung, Kameradschaft und Austausch, die diese Stadt so reich macht. Es ist falsch, von Rivalitäten zu sprechen. Man kann von jedem etwas lernen, und alle sind unterschiedlich. Für mich ist es ein Privileg, jetzt ein kleiner Teil davon zu sein.“ Gleichzeitig sagt sie: „Es reicht nicht mehr zu sagen, ich ziehe meinen Frack an, gehe auf die Bühne, verbeuge mich, dirigiere meine Sinfonie und erwarte, dass die Leute in den Konzertsaal kommen. Das wäre anmaßend.“Joana Mallwitz' musikalische Leidenschaft ist ansteckendSie möchte „Menschen erreichen, die noch nicht wissen, wie sehr sie sich für klassische Musik begeistern können, weil sie sie noch nicht unbedingt erlebt haben“. Ihr Markenzeichen, die sogenannten Expeditionskonzerte, bei denen sie gemeinsam mit den Musikern das Publikum im Vorfeld eines Konzerts auf eine Reise durch ein Musikstück mitnimmt, sind ausverkauft und ihre eigene Art, ihre Leidenschaft für die Musik zu vermitteln.Mallwitz erinnert sich, wie sie mit 16 eine Aufführung von Igor Strawinskys Le Sacre du Printemps sah. Sie besorgte sich die Partitur und nahm sie mit in die Schule. „Ich war überwältigt, total high, und als ich meinen Freunden davon erzählte, waren sie plötzlich alle vom Sacre begeistert.“An einem Sonntagnachmittag sitzt sie auf der Kante eines Klavierhockers auf der Bühne und beschreibt dem gebannten Publikum im voll besetzten Konzerthaus den großen Skandal, den das „charmant dissonante“ Werk bei seiner Uraufführung 1913 in Paris auslöste. Strawinsky, so erklärt sie, habe es unter dem Einfluss unerträglicher Zahnschmerzen fertig komponiert.„Es hat nichts von seiner Kraft verloren“, sagt sie.
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