Kuratieren die Irrungen und Wirrungen intimer Empfindungen im Krieg: Kateryna Iakovlenko, Borys Filonenko, Natalia Matsenko
Foto: Sofiia Soliar
In einer Nachricht heißt es, „Ich hoffe, dass eine Rakete meinen Ex erwischt hat“, in einer anderen: „Ich schäme mich, dass ich meine Katzen mehr vermisse als meinen eigenen Vater.“ Eine dritte gesteht: „Ich möchte meinen Vater wegen seiner sowjetischen Überzeugungen umbringen.“ „Ich kann nicht masturbieren“, liest man. Oder: „Ich masturbiere jeden Tag.“ Wieder jemand anderes schreibt: „Ich will noch einmal fantastischen Sex, bevor der Atomschlag passiert, aber seit zwei Monaten habe ich nicht mal mehr die emotionale Kraft, Tinder zu öffnen.“
Diese intimen Geständnisse prangen an einer Wand des Jam Factory Art Center, einer eleganten Galerie im westukrainischen Lwiw, die inmitten der russis
im westukrainischen Lwiw, die inmitten der russischen Invasion eröffnet wurde. Die anonymen „Geheimnisse“ sind Teil eines größeren Konvoluts, das die Künstlerin Bohdana Zaiats mithilfe eines Online-Google-Formulars zusammengetragen und dann auf Instagram veröffentlicht hat. Jedes gewährt einen flüchtigen Einblick in die privatesten, unaussprechlichen Gedanken von Ukrainer*innen, die unter dem Herzschmerz und der Entwurzelung leiden, die der Krieg verursacht.Es ist einer der delikatesten Momente in der Eröffnungsausstellung Our Years, Our Words, Our Losses, Our Searches, Our Us in der Jam Factory. Die von Kateryna Iakovlenko, Natalia Matsenko und Borys Filonenko kuratierte Ausstellung zoomt an rohe Emotionen heran, indem sie Werke zeigt, die die Irrungen und Wirrungen intimer Empfindungen auf eine Weise zum Ausdruck bringen, wie es Journalismus oder Dokumentarfilme nicht können. Aber sie zoomt auch raus – auf ein historisches Panorama, das bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht und beunruhigend, schmerzhaft und komplex ist.Aller Anfang steht auf der KrimNoch bevor man die Ausstellung betritt, erhält man mit der Eintrittskarte selbst ein Kunstwerk, I Have No Other Homeland But You von Sevilya Nariman-qizi. Die im Exil lebende Designerin ist eine Krimtatarin, die „nie in ukrainischen Museen ausgestellt war oder irgendeine Verbindung zur Kunstwelt hatte“, wie Kuratorin Kateryna Iakovlenko erzählt. Es ist Teil der Geschichte der Ausgrenzung der Krimtataren, die sich radikal verschärft hat für all jene, die auf der illegal besetzen Halbinsel geblieben sind und von der russischen Regierung immer wieder als islamische Extremisten bezeichnet werden.In der Ausstellung selbst wird man von einem Panorama empfangen, das zwischen 1991 und 1992 entstand, als die Ukraine unabhängig wurde. Das Werk heißt Die Verteidigung von Sewastopol und besteht aus fünf Gemälden von Oleksandr Hnylytskyi und Oleg Holosiy. Formal und in ihrer Bildsprache spielen sie auf das Gedenk-Panorama des Malers Franz Alexejevich Roubaud von 1904 an, das er zum Gedenken an die Belagerung von Sewastopol im Krimkrieg zwischen 1854 und 1855 schuf und das im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt wurde. „Die Krim war immer begehrt“, sagt Iakovlenko. „Sie war politisch gesehen stets eine rote Linie.“Das neuere Werk verzichtet auf die historisierenden Details von Roubauds Panorama und bietet stattdessen die unheimlich anmutende verschwommene Vision einer umkämpften Landschaft, die ebenso gut in den 1940er Jahren wie in den 1850er Jahren angesiedelt sein könnte. Es ist ein Beispiel dafür, wie Künstler mitunter unbewusst die Zukunft malen, wenn sie die Vergangenheit malen. Die Verteidigung von Sewastopol könnte auch ein Gemälde über die Annexion von 2014 sein. Oder die ukrainischen Schlachtfelder im Jahr 2024.Der Krieg reißt Löcher in die Felder, in die Häuser, in die LebenWoran erinnern wir uns, was ist der Sinn des Erinnerns, was wird besser vergessen? Die Künstlerin Katya Buchatska, die in diesem Jahr auch den ukrainischen Pavillon auf der Biennale in Venedig bespielt, beschäftigt sich in ihrer Videoarbeit This World Is Recording von 2023 damit, wie der Verlust dem Land selbst eingeschrieben wird. Während die Kamera über Felder schwenkt, die von Granatentrichtern übersät sind, denkt man an andere Lücken, andere Leerstellen, die durch den Krieg entstanden sind – Leben, die ausgelöscht wurden, künstlerische Arbeiten, die nie vollendet werden, besetzte oder zerstörte Häuser, die nie wieder betreten werden können. Solche Lücken im Leben der Überlebenden fühlen sich paradoxerweise nicht wie leere Räume an, sondern bestehen aus einer Trauer, die den Körper bis zum Ersticken ausfüllt. Die Kuratorinnen wissen das aus erster Hand. Iakovlenko verlor ihr erstes Zuhause in der Region Luhansk durch den Einmarsch im Jahr 2014. Ein zweites Zuhause in Irpin bei Kiew verlor sie durch einen Bombentreffer bald nach der russischen Invasion 2022.Buchatska befasst sich mit der Rolle von Mahnmalen, die oft auch als Warnung gedacht sind. Die Erinnerung an schreckliche Ereignisse, so stellt sie fest, ist jedoch nicht immer ein wirksamer Schutz davor, dass sich solche Dinge wiederholen. Buchatskas Werk endet mit dem Vorschlag, dass eines Tages auf diesen verwundeten und vernarbten Feldern ein Garten angelegt werden könnte anstatt einer traditionellen Gedenkstätte – „damit wir dort etwas zu verlieren haben“.Wenn das Land die Erinnerung an Traumata birgt, so gilt das auch für Mägen und Münder. Open Group ist ein Kollektiv ukrainischer Künstler*innen, die das Nachbarland Polen auf der diesjährigen Biennale vertreten werden – den konservativen Maler Ignacy Czwartos, den die rechte Vorgängerregierung ausgewählt hatte (der Freitag 47/2023), hat die neue polnische Regierung in letzter Minute abgesetzt. Für ihr Werk Repeat After Me verbrachten sie einige Zeit in Lwiw, um dort Kriegsgeräusche aufzunehmen, vokalisiert von Ukrainer*innen, die vor der Front geflohen waren. Der Film beginnt mit Svitlana aus der Region Luhansk, die das Geräusch eines Ka-52 Alligators imitiert – eines neuen russischen Kampfhubschraubers, der Panzer und Infrastruktur ausschalten soll. Nach einem langen, absteigenden „Tr-tr-tr“ fordert Svitlana die Zuschauer*innen auf, „sprecht mir nach“: Das Werk ist als eine Art Karaoke angelegt. Dann setzt Antonina ein mit dem Heulen einer Sirene bei Fliegeralarm, ein Geräusch, das die meisten Menschen in Westeuropa nur aus Filmen über den Zweiten Weltkrieg kennen. Iryna imitiert einen T-80-Panzer, während Boris aus Mariupol das Geräusch von Bombardements aus der Luft nachahmt, ein dünnes Heulen, gefolgt von hallendem Donnern. „Sprich mir nach, damit du dich erinnern wirst“, sagt er, denn es handelt sich um Erinnerungen, die historisch bedeutend sind und zu viel für eine einzelne Person.Grenzen des GedächtnissesEine andere Arbeit von Open Group besteht aus Filmen zweier ukrainischer Frauen, die die Häuser beschreiben, die sie zurückließen – das eine im Zweiten Weltkrieg, das andere im Zuge der Auseinandersetzung mit Russland, die 2014 begann. Über die Gesichter dieser älteren Frauen legt sich etwas Liebevolles, wenn sich die eine an einen besonders fruchtbaren Kirschbaum im Garten erinnert und die andere an den genauen Winkel eines Schürhakens, der neben dem Kamin stand, der sie zuletzt in den 1940er Jahren wärmte. Während die Frauen sprechen, zeichnen die Künstlerinnen und verwenden computergenerierte Bilder, um die Häuser „nachzubauen“. Später hat das Kollektiv die Häuser als architektonische Modelle dann wirklich nachgebaut: Die flüchtigen Bilder der Erinnerung werden fest.Alles in dieser Ausstellung ist von der Macht und den Grenzen des Gedächtnisses durchdrungen – manche Erinnerungen werden krampfhaft und traumatisch bewahrt, andere schweben außer Reichweite, gehen vielleicht für immer verloren. Es gibt ein winziges, unprätentiöses, pragmatisch gemachtes Bild in der Ausstellung, das zunächst gar nicht als Kunstwerk gedacht war – nicht zuletzt, weil der Künstler, als er es erstellte, ganz auf die humanitäre Arbeit als Freiwilliger konzentriert war. An einer der Wände der Galerie ist ein Mobiltelefon ausgestellt. Auf dem Bildschirm ist ein Foto eines Holzzauns zu sehen, der von einem Doppeltor durchbrochen wird. Es wurde von Yaroslav Futymskyi, der als Künstler oft mit Sprache arbeitet, aufgenommen, als er beim Wiederaufbau in der nördlichen Region Tschernihiw half, nachdem diese wieder befreit worden war.Auf dem Tor steht „DETY“, das russische Wort für „Kinder“. So etwas wurde aufgemalt, um an die Menschlichkeit vorrückenden Invasoren zu appellieren. In diesem Fall sind die Buchstaben geteilt, zwei auf jeder Seite des Tores, was zu einer anderen Lesart einlädt. Das ukrainische „DE TY“ bedeutet „Wo bist du?“, was als alternativer Titel für diese Ausstellung dienen könnte, die versucht, einen Sinn für den Ort in der Zeit und der Geschichte zu finden – und einen Weg, die Dinge, die verschwunden sind, irgendwie wiederzufinden.Placeholder infobox-1
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