Ramadan in Gaza: Hungersnot und Kriegsangst überlagern den Fastenmonat
Reportage Mit einem israelischen Angriff auf Rafah ist weiterhin zu rechnen. Hilfsorganisationen schaffen es nicht, die Menschen ausreichend zu versorgen: Einen solchen Ramadan der Trauer und Not gab es noch nie
Freitagsgebet vor den Ruinen der von israelischen Luftangriffen zerstörten Al-Faruq-Moschee in Rafah, 1. März 2024
Foto: Said Khatib/AFP/Getty Images
Siebzig Tage nachdem sie gezwungen wurden, ihr Haus in der Stadt Khan Younis im südlichen Gaza zu verlassen, verbringen Hanaa al-Masry, ihr Mann und die sechs Kinder den Ramadan in ihrem neuen Zuhause, einem heruntergekommenen Zelt inmitten eines Camps in Rafah. Hier gibt es keine Dekorationen, keine fröhlichen Familienessen und keine Lesung aus dem Koran unter den Zitronen- und Orangenbäumen im eigenen Garten, wie das bei dieser Familie einst üblich war. Der heilige Monat der Muslime – eine Zeit für Freunde, mit denen gefastet und gebetet wird, ist diesmal, seit er am 11. März begann, so niederschmetternd und bitter wie nie zuvor. Niemand in Gaza dürfte sich daran erinnern, jemals einen Ramadan begangen zu haben, bei dem man nicht wusste, ob man ih
ihn überlebt.Autos werden SchrotthaldenDie Familie Masry floh aus Khan Younis, nachdem sie Flugblätter der israelischen Armee in die Hand bekommen hatte, mit denen sie aufgefordert wurde, zur eigenen Sicherheit ihren Aufenthaltsort zu verlassen. Sie machte sich auf den Weg nach Rafah an der Grenze zu Ägypten und kam in einem überfüllten provisorischen Lager an, wo man inmitten eines riesigen Durcheinanders lebte und schlief, sodass jede Privatheit entfiel. „Meine Töchter hatten ihr Geld sorgfältig gespart, um Dekorationen zu kaufen. Wie jedes Jahr wollte ich mir eine neue Ramadan-Laterne aussuchen“, erzählt die 37-jährige Hanaa al-Masry. „Es ist sehr deprimierend, zu wissen, dass es in diesem Jahr keine Laternen geben wird hier in diesem Asyl der Trostlosigkeit.“ Masry hat weder Suhoor zubereitet, die Mahlzeit vor Beginn eines rituellen Fastentages, noch wird sie zum Fastenbrechen, dem Iftar, eine Mahlzeit aus Käse, Marmelade, Bohnen und Eiern auf den Tisch bringen, um die Familie zu erfreuen.Dabei waren Mitte März die Bedingungen in Rafah noch um einiges besser als im Norden des Gazastreifens, wo nach Angaben der örtlichen Gesundheitsbehörden Hungertote drohen, weil nicht einmal mehr die Grundversorgung gewährleistet ist. Viele in Rafah ernähren sich von Fladenbrot, das über Holzfeuern oder einfachen Gasherden gebacken wird, oder von Konserven, die über humanitäre Organisationen aus Ägypten eingeschleust werden. Ein halbes Kilo Zucker kostet mittlerweile umgerechnet zehn Dollar, Salz ist fast nicht mehr zu bekommen, frisches Obst oder Gemüse ist ebenso rar wie teuer. „Ich bin nicht die Einzige, die sich danach sehnt, unsere Bräuche aufrechtzuerhalten. Früher schmückten meine Nachbarn und ich unsere Straße mit Lichterketten und Laternen, aber jetzt ist alles um uns herum ein einziger Albtraum. Auch die Straßen im Lager tragen Narben israelischer Bombenangriffe, die Menschen versinken in Trauer und verlieren jeden Halt“, sagt Hanaa al-Masry.Auslöser des Kriegs war der Angriff militanter Hamas-Kämpfer auf Südisrael mit mehr als 1200 Toten, hauptsächlich Zivilisten, und 250 entführten Geiseln. Bei der am 7. Oktober gestarteten Gegnoffensive Israels wurden in Gaza mehr als 31.000 Menschen getötet, die meisten davon Frauen und Kinder. Mittlerweile sind die meisten der 2,3 Millionen Einwohner auf der Flucht, große Teile der Wohnorte in Gaza sind vollkommen zerstört.Der 37-jährige Hussein al-Awda traf vor mehr als einem Monat in Rafah ein, nachdem er einen Großteil des Krieges in einer von den Vereinten Nationen geführten Unterkunft in der Nähe von Khan Younis verbracht hatte. Er war dort als Programmbeauftragter einer internationalen Nichtregierungsorganisation und berichtet, seit Beginn des Konflikts kaum mehr Fleisch gegessen zu haben. Er ernähre sich mittlerweile nur noch von Bohnen aus der Dose, die er nicht wärmen könne. „Es gibt noch einige Nüsse und Trockenfrüchte auf dem Markt, wie wir sie zum Fastenbrechen im Ramadan verwenden, aber sie sind einfach sündhaft teuer. Ich muss mit kalten Bohnen auskommen.“ Awda erzählt, wie schon zu Beginn der israelischen Angriffe, als er noch in Khan Younis war, der Strom von den Israelis abgeschaltet wurde. Er habe gesehen, wie von Tag zu Tag mehr an medizinischer und Energieinfrastruktur zerstört wurde. Die minimalen Treibstoffmengen, die weiterhin in den Gazastreifen gelangen durften, reichten nicht aus, um Pumpen oder Generatoren zu betreiben. „Überall haben Eselskarren Fahrzeuge als Transportmittel abgelöst. Aus Autos wurden Schrotthalden.“Awda, dessen Haus in Gaza-Stadt schon in den ersten Kriegswochen zerstört wurde, gab im vergangenen Monat alle Ersparnisse aus, um seine Frau und die drei kleinen Kinder nach Kairo zu bringen. Er selbst blieb, damit er sich um seine alten und kranken Eltern kümmern kann, die zu gebrechlich sind, um noch irgendeine Reise anzutreten, und das Schicksal Zehntausender teilen.„Wir waren während des Ramadan als Familie immer zusammen. So voneinander getrennt zu sein wie jetzt, das gab es noch nie.“ Awda redet nur noch stockend, als er fortfährt. „Ich weiß nicht, wie ich es meinen Kindern erklären soll, wenn ich sie in Ägypten erreiche. Mein Jüngster fängt an zu reden, und ich kann ihn auf meinem Mobiltelefon hören, wenn ich eine stabile Verbindung habe, aber das ist an manchen Tagen der reine Glücksfall.“Rafah ist Knotenpunkt der HilfseinsätzeAlaa al-Shurafa, einst Dozentin an der Islamischen Universität in Gaza-Stadt, wurde vor fünf Monaten von israelischen Militärs erklärt, sie habe ihr Zuhause umgehend zu verlassen. Es verschlug sie ebenfalls nach Rafah. Seither bewohnt sie mit ihren Eltern ein kleines Zimmer in einem verlassenen Wohnblock mitten in der Stadt. Ansonsten ist ihre Familie überallhin verstreut. Eine Schwester blieb in den Trümmern von Gaza-Stadt, eine zweite hält am anderen Ende von Rafah aus. „Wir sind von unseren Lieben getrennt und wissen nicht, wann wir dorthin zurückkehren können, woher wir einst kamen“, sagt Shurafa. Allen, die trotzdem versuchen, den Ramadan in Rafah zu feiern, droht nun das Inferno eines israelischen Angriffs, von Beschuss, Bombardierung und Einmarsch. Die Regierung von Benjamin Netanjahu behauptet, in der Stadt seien Hamas-Führer stationiert, zusammen mit mindestens vier Bataillonen von Militanten. Es handle sich um die einzigen noch verbliebenen größeren Kampfeinheiten der islamistischen Organisation und ihrer Verbündeten.Obwohl Israels Regierungschef unter starkem internationalen Druck steht, in Rafah Militäroperationen zu unterlassen und mehr humanitäre Hilfe für ein Territorium mit über einer Million Vertriebenen zu ermöglichen, verspricht er weiterhin den „totalen Sieg“. Allerdings müsse dazu auch der Süden Gazas vollständig unterworfen werden. Sollte Netanjahu Rafah angreifen lassen, träfe das einen der wichtigsten Knotenpunkte für die Logistik der Hilfseinsätze. „Wir sitzen da und warten ab, welches Schicksal uns zugedacht ist, und haben keine Ahnung, wie lange wir mit dieser Ungewissheit leben müssen und nichts dagegen tun können. Das ist das Schlimmste, was uns passieren kann“, klagt Awda. Und Hanaa al-Masry erinnert sich, dass sie noch vor einem Jahr täglich nach dem Morgengebet die Bäume und Rosensträucher in ihrem Garten in Khan Younis gegossen habe. „Früher fand ich Trost und Erfüllung darin, zwischen den Blumen zu sitzen, den Koran zu rezitieren und zu Gott zu beten. Inzwischen liegt mein Garten in Trümmern.“
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