Turner-Preis für Jesse Darling: Was zusammenbricht, kann anders werden
Kunst Der in Berlin lebende Brite Jesse Darling ist der Gewinner des Turner-Preises 2023. Er fühlt sich in der Kunstwelt als Außenseiter – und sagt von sich selbst, dass er mit seiner Kunst keine Luxusobjekte herstellen will
Es kommt nicht oft vor, dass zeitgenössische Kunst einen zum Lachen bringt. Aber im Raum von Jesse Darling bei der Turner-Preisverleihung konnte ich nicht an mich halten. Darlings Kunst hat Energie und Witz: die Skulpturen aus Leitplanken und rot-weißem Plastikklebeband; die frivolen, phallischen Kerzen, die aus den Wänden ragen; die Hämmer, die mit Bändchen und Glocken verziert und in Glaskästen platziert sind (ihre inhärente Männlichkeit wird auf diese Weise parodiert und transformiert, so als wären sie Fetischobjekte einer zukünftigen Religion). „Das ist der meistbeachtete Auftritt, den ich in Großbritannien je haben werde“, sagt er selbst über die Ausstellung in der Galerie Towner Eastbourne. „Die britische &
e Öffentlichkeit interessiert sich aus verständlichen Gründen nicht für zeitgenössische Kunst, man ist genug beschäftigt mit all dem, was mies läuft, besonders im Moment. Der Turner-Preis fühlt sich dennoch wie öffentliches Eigentum an, völlig zu Recht. Das Britische an dieser Ausstellung ist ziemlich offensichtlich. Ich werde so was nicht noch mal erreichen können.“Darling, 41, lebt in Berlin: Seine Beobachtung der Lage in Großbritannien ist die eines Mannes, der zum Außenseiter wurde. Er spricht vom Schock bei der Rückkehr in ein Post-Covid-Großbritannien, das baufällig und heruntergekommen wirkt. Berlin mit seinem anständigen Kinderbetreuungssystem und seiner Sozialhilfe wirke da viel gastfreundlicher. In der Ausstellung geht es jedoch nicht nur um Großbritannien. Es geht allgemein um die Vergänglichkeit der Dinge, um die Fragilität all dessen, was wir für selbstverständlich halten. Der außergewöhnlich fesselnde Film, der zur Ausstellung produziert wurde, unterstreicht das.Der Apokalypse entgegenDie Filme sind Teil des Turner-Preises und bestehen normalerweise lediglich aus einem pflichtschuldig geführten Studiointerview zur Kontextualisierung des Werks. In Darlings kleinem Film aber durchstreifen der Künstler und sein Team drei Tage lang die englische Küste, besuchen Containerhäfen, halten an, um sich vermüllte Parkplätze anzuschauen oder Brombeeren am Straßenrand zu pflücken. Alles sei so schön und interessant, bemerkt Darling an einer Stelle erfreut. Aber gleichzeitig ist alles im Verfallen begriffen. „Die Zombie-Apokalypse findet statt.“ Später fügt er in Anlehnung an den Sci-Fi-Autor William Gibson hinzu: „Die Apokalypse ist bereits da, sie ist nur ungleichmäßig verteilt.“Diese Stimmung – eine Art interessiert-skeptischer Chiliasmus – hat tiefere Gründe. Vor etwas mehr als zehn Jahren erlebte Darling schwere gesundheitliche Rückschläge, psychisch und physisch. Ihn packte die Angst, dass die Welt wirklich untergehen könnte. „Ich war damit nicht allein“, sagt er und verweist auf die Interpretationen von Maya-Prophezeiungen, denen zufolge die Welt im Jahr 2012 untergehen sollte. Die Genesung verlief langsam – „Ich stellte meine Ernährung um und machte mir zur Regel, nach 19 Uhr nicht mehr ins Internet zu gehen“ –, aber allmählich kam er wieder auf die Beine.„Intuitiv wusste ich, was mein Körper brauchte, um aus diesem Zustand der Überwachsamkeit herauszukommen“, sagt er. „Aber mit dem Ende der Welt musste ich mich immer noch abfinden.“ Er las viel und kam zu einem philosophischen Schluss: Die Welt geht wirklich zu Ende, zumindest die, die wir kennen. Andererseits: „Man kann sagen, dass die Völker, die kolonialisiert wurden, bereits die Apokalypse erlebt haben, wenn nicht sogar mehrere Apokalypsen. Mit anderen Worten: Für irgendjemanden geht die Welt immer unter.“Er fährt fort: „Mit unserem Imperium geht es zu Ende. Es hat gute Zeiten hinter sich. Die sind jetzt vorbei, und das ist in Ordnung. Es könnte schlimmer sein! Wir sind jetzt nicht in Gaza. Wer weiß, vielleicht kommt der ewige Krieg auch noch zu uns. Und wir müssen das dann hinnehmen.“Darlings Weg zum Künstler war alles andere als geradlinig. Er wuchs in Oxford auf. Seine Kindheit dort klingt wohlbehütet und hat sein Werk deutlich beeinflusst, das sich oft mit den Ideen des Privateigentums, des Abschottens und der Kolonialisierung auseinandersetzt. „Der Universität gehört der größte Teil der Stadt“, erzählt er, „man läuft am Fluss entlang und sieht diese schönen, träumenden Turmspitzen. Aber wenn man in der Nähe ist, kann man sie nicht wirklich erreichen. Man muss immer über Mauern blicken, um sie zu sehen, über wunderschöne, ummauerte Gärten. Das hat mir schon früh die Politik des Klassensystems vor Augen geführt.“Er erinnert sich an die Arroganz, mit der die Studenten mit ihren Privatschul-Attitüden die ganze Stadt zu ihrem Club machten, wenn sie durch die Straßen pöbelten und Platz beanspruchten, „als ob ihnen die ganze Stadt, die ganze Welt gehört. Nicht alle Studenten, die Oxford besuchen, benehmen sich so – aber die Leute, die jetzt unser Land regieren, kommen von da“.Über seine Schulzeit berichtet er: „Auf eine gewisse Weise war ich schon immer Künstler. Ich habe immer irgendwas gebastelt und Geschichten erzählt. Es war wie ein Zwang.“ Dennoch hatte er nicht das Gefühl, dass ihm der Weg zu einer Künstlerkarriere offenstünde. Ein erster Versuch an einer Kunsthochschule in Amsterdam endete mit dem Rausschmiss nach einem Jahr. „Ich war zu jung und nahm zu viele Drogen.“ Eine Zeit lang arbeitete er als Koch und wohnte in besetzten Häusern: „Ich lebte in einer Art ‚Stadt unter der Stadt‘, in der ich keine Miete, Steuern oder Ähnliches zahlte, bis ich an die 27 war.“Die Liste der Berufe, die er bereits ausgeübt hat, ist ziemlich bemerkenswert. „Ich war Zirkusclown. Ich war Maler und Dekorateur. Ich war Forschungsassistent. Kurz habe ich, zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Bereichen, in der Sexindustrie gearbeitet. Ich habe auch im Einzelhandel gejobbt, aber ich war schlecht darin. Barista und Barkeeper war ich auch – und war schlecht darin. Ich habe Aktmodell gesessen. Als Tänzer habe ich mit Kindern und Erwachsenen mit körperlicher und geistiger Behinderung gearbeitet.“ Möchte er vielleicht mehr zur Sexarbeit erzählen? „Nein“, antwortet er. „Lassen wir es dabei.“Mit Ende 20 überredete Darling sich selbst zu einem Theaterdesign-Studium am Central Saint Martins College in London – wechselte dann aber schnell zur bildenden Kunst. „Ich war in der Bildhauerei und hatte keinen Durchblick. Da waren all diese fantastisch gekleideten jungen Menschen um mich herum, die einfach nur ,machten‘. Ich dachte mir: ‚Wow, da hat jemand wirklich an dich geglaubt, oder?‘ Ich dagegen hatte nichts, was mich bestärkte, außer meiner Lebenserfahrung – aber ich war sehr defensiv und verschroben.“Jeder Turner-Gewinner bekommt nicht nur 25.000 Pfund, sondern auch viele Möglichkeiten, mehr von der gleichen Kunst zu produzieren und zu verkaufen, mit der er den Preis gewonnen hat. Darling ist daran wenig interessiert. „Ich bin nicht auf die Welt gekommen, um Luxusobjekte für eine Klasse von Menschen zu machen, die nichts mit mir gemeinsam hat und die das verachtet, was ich liebe. Für mich gilt: ‚Wie kann ich meine begrenzten Fähigkeiten, meine zur Lohnarbeit unnütze psychotische Logik nutzen, um was anderes zu machen?‘“Jean Genet als MusicalstoffEr will mehr Filme drehen, vorausgesetzt er findet jemanden, der sie finanziert. Und dann ist da noch – womit ich nicht gerechnet hätte – seine Idee für ein Musical. „Es befindet sich noch in einem sehr frühen Stadium“, erzählt Darling, „wir planen eine Art Kasperletheater-Version von Notre-Dame-des-Fleurs – Jean Genets autobiografischem Roman über das geheime queere Pariser Leben, den er in den 1940er Jahren im Gefängnis schrieb.Als wäre diese kulturelle Kurve nicht schon scharf genug, erzählt Darling als Nächstes von seiner Liebe zum Bond-Film Skyfall. „Der Film ist auf seine Art James Bond in Drag. Allen ist klar, dass das Imperium untergeht und der Alte es nicht mehr bringt – er fällt beim Gesundheitscheck durch. M ist auch dabei, sich zu verabschieden. Sie ist Königin Viktoria und Britannia, die Mutter der Nation. Aber gleichzeitig ist sie auch nur eine alte Schachtel, die nicht mehr lange zu leben hat.“Nennen Sie es psychotische Logik oder einfach einen ungewöhnlich gut ausgeprägten Sinn für die Interkonnektivität der Dinge, aber all das – Kasperletheater, Varieté-Shows, sterbende Imperien, Queerness – ist in Darlings Arbeit für den Turner-Preis zu sehen. Über die Ausstellung sagt er: „Ich versuche sichtbar zu machen, dass die großen Geschichten und Strukturen, an die wir glauben, in Wahrheit nur fadenscheinige und willkürliche Erfindungen sind. Alles kann zusammenbrechen – das heißt aber auch, dass es eines Tages anders werden kann. Ich sehe darin Hoffnung. Und Witz.“Placeholder authorbio-1
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