Nach Jahrzehnten des Niedergangs sind die Gewerkschaften in den USA auf dem Vormarsch: von Amazon und UPS bis hin zu Starbucks und den Hollywood-Studios. Für Shawn Fain ist der Grund klar: „Die Arbeiter wissen, dass sie seit Jahrzehnten verarscht wurden. Sie haben die Nase voll.“
Fain, der aus dem Mittleren Westen kommt, tritt verbindlich auf, aber er sagt, was er denkt, und nennt die Dinge beim Namen. Der Vorsitzende der United Auto Workers (UAW) steht an der Spitze einer neuen Generation von Gewerkschaftsführern. Seitdem die UAW im Oktober 2023 die drei großen US-Autofirmen in einem bahnbrechenden Tarifkonflikt besiegt hat, werden ihre Mitglieder sowohl von Joe Biden als auch von Donald Trump umworben (der Freitag 40/2023). Trotz Bedenken einiger seiner Mitglied
der Freitag 40/2023). Trotz Bedenken einiger seiner Mitglieder hat sich Fain klar auf die Seite der Demokraten geschlagen.Jetzt steht er vor noch größeren Herausforderungen. Die UAW trägt ihren Kampf in Bundesstaaten, die seit langem erfolgreich gegen Gewerkschaften vorgehen – und er muss seinen Laden zusammenhalten, während die USA in ein Wahljahr steuern, in dem sich Arbeiter auf beiden Seiten eines polarisierten Wahlkampfes gegenüberstehen. Was für eine Statur Fain gewonnen hat, sah man bei Joe Bidens Rede zur Lage der Nation im März 2024. Biden grüßte sowohl die Gewerkschaft als auch ihren Vorsitzenden; Fain, der seinen Bart gestutzt hatte und Anzug und Shawn Fains Weg an die GewerkschaftsspitzeFains Aufstieg wäre wohl nie passiert, wenn 2022 nicht mehr als ein Dutzend Gewerkschaftsfunktionäre sowie drei Stellantis-Führungskräfte wegen Betrugs, Korruption und Veruntreuung gewerkschaftlicher Gelder verurteilt worden wären. Fain, eigentlich ein UAW-Dissident, hat fast 30 Jahre als Elektriker bei Stellantis in Kokomo, Indiana, gearbeitet (dem Autokonzern, der aus der Fusion von Fiat Chrysler und PSA entstand und zu dem auch Opel gehört). 2023 löste er die alteingesessene Führungsriege der Gewerkschaft ab und versprach, mit der Korruption aufzuräumen. Und den in seinen Augen zu arbeitgeberfreundlichen Kurs der UAW zu beenden.Noch heute spricht er mit beißendem Spott über die ehemalige Führung der Gewerkschaft: „Die Korruption war eine Sache. Aber das, was sie ‚Zusammenarbeit‘ mit dem Arbeitgeber nannten, bedeutete tatsächlich die Schließung von Fabriken und den Verlust von Arbeitsplätzen. In 20 Jahren haben wir 65 Fabriken der ‚Großen Drei‘ (also General Motors, Ford und Chrysler) verloren.“Fain war ein nationaler Verhandlungsführer während der Rezession nach der Finanzkrise 2008, als Chrysler in die Pleite rauschte. „Ich habe gesehen, wie das Unternehmen die Situation ausnutzte, während unsere Arbeiter die Hauptlast der Krise trugen. Danach konnten wir zehn Jahre zugucken, wie die Autokonzerne enorme Gewinne einfuhren. Deswegen bin ich angetreten: um die Gewerkschaft wieder zu dem zu machen, was sie sein sollte. Uns war klar, dass wir von Anfang an einen neuen Ton anschlagen mussten. Den Tarifkonflikt haben wir auch geführt, um das Narrativ zu ändern. Im vergangenen Jahrzehnt haben die Großen Drei Gewinne in Höhe von 250 Milliarden Dollar erzielt. Die Gehälter von CEOs sind in vier Jahren um 40 Prozent gestiegen. Und unsere Gehälter sanken. Darum ging es.“Neue Strategien für den ArbeitskampfAls er die Gewerkschaftszentrale übernahm, begann Fain verstärkt, die sozialen Medien zu nutzen, um mit den UAW-Mitgliedern im ganzen Land zu kommunizieren. „Das blieb aber nicht auf unsere Mitglieder beschränkt; die Öffentlichkeit sprang darauf an, die Medien genauso. Das hat sich dann ausgewirkt, als es Zeit zum Streiken war: 75 Prozent der Amerikaner unterstützten uns.“Die Autofirmen wurden davon auf dem falschen Fuß erwischt. „Ich glaube, sie dachten, das sei alles nur Gerede“, sagt Fain. „Sie waren an Gewerkschaftsführer gewöhnt, die sich nach außen kämpferisch gaben, und einknickten, sobald sie am Verhandlungstisch saßen.“Die UAW brach mit der Tradition, immer nur eine der drei großen US-Autofirmen zu bestreiken, und begann gleichzeitig Arbeitskämpfe gegen alle drei. Anschließend sparte sie geschickt Streikgelder, indem sie immer nur einzelne Standorte und nicht alle auf einmal bestreikte. Der 46-tägige „Stand Up Strike“, der nach dem Scheitern der Tarifverhandlungen mit General Motors, Ford und Stellantis im September 2023 begann, endete mit einem überwältigenden Sieg der UAW; sie erstritt Lohnerhöhungen von mehr als 25 Prozent. Davon gestärkt, begann die Gewerkschaft den Kampf in die vielen gewerkschaftsfreien Autofabriken im ganzen Land zu tragen.Zukunft der amerikanischen GewerkschaftenMan kann an mehreren Indizien ablesen, wie sich die Kräfteverhältnisse in der US-Autobranche verändert haben: Im März stimmten 96 Prozent der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer in den Werken von Daimler Truck North America in North Carolina, Georgia und Tennessee vorsorglich für einen Streik, sollten die derzeitigen Verhandlungen für einen im April auslaufenden Tarifvertrag scheitern. Und vergangene Woche stimmten Arbeiter in dem VW-Werk in Chattanooga, Tennessee, mehrheitlich dafür, der UAW beizutreten; es war ein historischer Sieg für die UAW, die eine derartige Wahl schon zweimal versucht hatte, bisher aber damit gescheitert war. Ähnliches plant die UAW für das Mercedes-Werk in Vance, Alabama.Fain ist optimistisch, dass die Gewerkschaft künftig auch in Fabriken Fuß fassen wird, wo sie bis jetzt noch nicht vertreten war. Tatsächlich war eine der Nebenwirkungen des UAW-Erfolgs im Oktober, dass gewerkschaftsfreie Autofirmen wie Toyota, Honda, Tesla, Nissan, VW und Hyundai sich beeilten, ihren Beschäftigten unaufgefordert Gehaltserhöhungen zu gewähren, um zu vermeiden, dass diese sich gewerkschaftlich organisieren.Fain ist überzeugt, dass da noch viel mehr zu erreichen ist. „Die Arbeiter haben gemerkt, dass sie jahrzehntelang betrogen wurden, und sie haben es satt … Wenn die Arbeiter bei VW eine Vereinbarung wie die bei Ford hätten, bekämen sie dieses Jahr 23.000 US-Dollar Gewinnbeteiligung. Stattdessen kriegen sie gar nichts. Die Gewinnmargen der koreanischen, japanischen und deutschen Autofirmen sind unverhältnismäßig größer als die der großen drei US-Firmen. Trotzdem verdienen ihre Arbeiter weniger. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir dieses Jahr noch was Großes erleben werden.“ Und Elon Musk? Der sei eine harte Nuss, räumt Fain ein und sagt: „Er ist der Inbegriff von allem, was mit dieser Welt nicht stimmt.“Fains Rhetorik erinnert an Gewerkschafter einer längst vergangenen Zeit, etwa wenn er von der „Milliardärsklasse“ als Feind spricht. Fain führt sein Klassenbewusstsein auf die Erfahrungen seiner Großeltern zurück – verarmte Südstaatler, die während der Großen Depression in den Norden gingen, um in der eben erst gewerkschaftlich organisierten Autoindustrie zu arbeiten. Und er verweist auf seinen Glauben. „Ich bete jeden Tag, wenn ich aufwache. Ich lese die Bibel täglich. Alles, was ich lese, egal welcher Religion jemand angehört, ob Muslim oder Christ, im Kern geht’s doch bei jeder Religion um dasselbe: die Nächstenliebe. Warum versuchen wir dann nicht – angesichts des größten Überflusses in der Geschichte –, das zu tun, was für die Menschen funktioniert?“Shawn Fain kämpft gegen die Gier der „Milliardärsklasse“Woran Fain nicht glaubt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Unternehmen Technologie dafür nutzen werden, das Leben der Arbeiter zu verbessern. „Walter Reuther (ein legendärer UAW-Funktionär) sagte immer: ‚Wir müssen die Technologie beherrschen und dürfen uns nicht von ihr beherrschen lassen‘“, sagt Fain. „Wenn es einen technologischen Fortschritt gibt, sollte er das Leben der Menschen und Arbeiter vereinfachen. Aber was passiert? Die Unternehmen nutzen den Fortschritt dafür, Arbeitsplätze abzubauen und Fabriken zu schließen. Die, die noch einen Job haben, sollen dann mehr und härter arbeiten. Dabei würden sie auch dann Gewinne machen, wenn die Arbeiter ein besseres Leben hätten. Die Unternehmen sind profitabel, das Geld ist da. Aber aus reiner Gier wollen die Konzerne und eine Handvoll Milliardäre den ganzen Reichtum in ihren Händen konzentrieren. Um das zu erreichen, wollen sie alle anderen übers Ohr hauen.“Fain widerspricht entschieden, wenn die steigenden Verkaufspreise für Autos den von den Gewerkschaften ausgehandelten Lohnsteigerungen zugeschrieben werden. „Das ist ein Mythos“, sagt er. „Fünf bis sieben Prozent der Kosten eines Autos sind Personalkosten. Die Autokonzerne könnten all unsere Forderungen akzeptieren, die wir in den Tarifverhandlungen erhoben haben, ohne die Verkaufspreise für Autos um einen Cent zu erhöhen: Sie würden trotzdem immer noch enorme Gewinne einfahren. Warum reden wir nicht über die 20 Milliarden US-Dollar an zusätzlichen Unternehmensdividenden und Aktienrückkäufen? Das wirkt sich auf die Bilanz viel stärker aus, aber es zählt irgendwie nicht, oder? Alles, worüber sie reden, sind unsere Löhne und Sozialleistungen. In den letzten vier Jahren sind die Autopreise durchschnittlich um 35 Prozent gestiegen. Unsere Löhne sind gleich geblieben! Preiserhöhungen sind auf zwei Dinge zurückzuführen: die Gier der Manager und willkürliche Preiserhöhungen im Schatten der Inflation. Und dann geben sie den Arbeitern die Schuld daran.“Da die Mitgliederzahlen der Gewerkschaft jüngst wieder gewachsen sind, sehen manche schon ein Ende des Langzeittrends, im Zuge dessen die Mitgliederzahl von 1,5 Millionen in den 1970er Jahren auf jetzt 380.000 geschrumpft ist. Der Niedergang begann damals mit der Demütigung der Fluglotsengewerkschaft zu Beginn der Reagan-Ära. Fain, der zu der Zeit ein Teenager war, sagt: „Alle Arbeitnehmer, nicht nur die Gewerkschaften, hätten sich damals zusammen wehren sollen. Denn was folgte denn darauf, während der letzten 40 Jahre? Reagan und ‚Jeder kämpft für sich allein‘ und ‚Wer hat, dem wird gegeben‘. Es waren 40 Jahre des Rückschritts für die Arbeiterklasse. Heute kämpfen viele Arbeiter ums nackte Überleben, sieben Tage die Woche, sie müssen gleich mehrere Jobs haben, zwölf Stunden am Tag. Das ist kein Leben. Wir Arbeiter, ob gewerkschaftlich organisiert oder nicht, müssen die Macht, die wir haben, nutzen und unser Leben zurückerobern.“Placeholder infobox-1
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