Als Student im ersten Jahrgang des damals neuen Gießener Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft lernte René Pollesch das Theater in den frühen 80ern nicht durch die Darstellung seiner Geschichte als Lehrinhalt kennen, sondern mit den Avantgarden des 20. Jahrhunderts, insbesondere der wenigen Nachkriegsjahrzehnte. Damit war man in der Gegenwart, und es dürfte Pollesch inspiriert haben, im Theater einiges anders zu machen oder es zumindest einmal auszuprobieren. Es war die Spezialität des Gießener Instituts, das von Gerhard Stadelmaier später als „größte Unglücksschmiede des deutschen Theaters“ beschimpft wurde, Theorie und Praxis zusammenzuführen, möglichst unbelastet von Traditionsvorgaben und unter dem sch&
chützenden Dach einer Universitätsbühne mit nicht allzu großer Reichweite.Allerdings erwarteten den Absolventen Pollesch, wie so manch anderen Geisteswissenschaftler oder Theaterschulabsolventen in den Neunzigern, harte Jahre des Ausharrens mit projektartigen Gelegenheitsarbeiten. Mal eine Dramaturgie hier und da, dann wieder Zeiten demütigender Arbeitslosigkeit, die Pollesch allerdings zum Schreiben nutzte. Wobei er sich, darin ganz Gießener, nicht etwa an bewährten Dramenmodellen orientierte, sondern eher mit Filmen als Referenzsystem oder Anleihen bei der Trash-Kultur jener Zeit operierte. Ein Stück aus dem Jahr 1992 hatte dann auch den Titel Splatterboulevard. Noch in dieser Art Inkubationszeit erfand er eine Figur namens Heidi Hoh, mit der er die ihm bitter bekannten neuen Arbeitsverhältnisse zum Sprechen brachte.René Polleschs Theater verstanden vor allem Menschen unter 40Mit den drei ab 1998 aufgeführten Heidi-Hoh-Stücken kam der Durchbruch. Es war eine Zeit, da die Theater neue Autoren und deren Themen zu suchen begannen, nachdem sie einigermaßen orientierungslos durch das Wiedervereinigungsjahrzehnt gegangen waren. Im westdeutschen Theater sollte am besten alles so bleiben, wie es war – dieselben Autoren, die sich in den 1970ern durchgesetzt hatten, für dieselben Regiestars aus jener Zeit und ihre langsam alternden Lieblingsschauspieler. Im Osten rang man oft ratlos ums Publikum. Aber plötzlich wollten alle Neues spielen, die von Thomas Ostermeier übernommene Schaubühne sogar nur noch Jungdramatik, als „Nabelschnur zur Realität“, wie Ostermeier die Aufgabe nannte.Heidi Hohs Ankunft in jener Theatergegenwart vollzog sich indes schrittweise. 1998 betrat sie die kleine Bühne des Berliner Podewil, einem gut eingeführten Ort der Off-Szene. Drei Frauen sprachen Turbostakkato, gegliedert durch Schreie, aber sonst abwechselnd so „auf Anschluss“, wie es damals hieß, dass man zwar den Eindruck hatte, sie würden zueinander sprechen, aber eben nicht als Dialog. Pollesch brachte damit den sozialen Inhalt in eine theatrale Form mit einer verdreifachten Frau, für die in der Selbstentfremdung ihres Subjekts alle Grenzen zwischen Arbeit, Freizeit, Zuhause und Büro zerfließen – rund 20 Jahre vor der Homeoffice-Epidemie, aber damals deutlich als eine Beschreibung der Verhältnisse prekärer Arbeitswelten. Das wurde vor allem von Menschen unter 40 verstanden, und weil es fast wie Pop daherkam und nicht wie das politische Theater, das man aus der Schule kannte, konnte Pollesch mit dem dritten Teil der Heidi-Hoh-Serie bereits in den Prater einziehen, die kleine Spielstätte der Volksbühne in der Kastanienallee.Dort übernahm er, in Co-Leitung mit der Dramaturgin Aenne Quiñones, erstmals eine eigene Bühne und konnte vor allem das Arbeiten in Serien fortsetzen. In einem Einheitsbühnenbild von Bert Neumann widmete sich eine ganze Spielzeit dem Thema Wohnen und Wem gehört die Stadt. Stadt als Beute und Insourcing des Zuhause klingen vom Titel her, als wären sie für unsere unmittelbare Gegenwart geschrieben, nein, auch das ist über 20 Jahre her, und wie später als Standard auf den Programmzetteln von Pollesch-Inszenierungen, bezogen sie sich auf Sach- und Theoriebücher der zeitgenössischen Philosophie und Soziologie. Das war anschlussfähig und sollte in kürzester Zeit ein originäres Modell werden – das Pollesch-Theater, wie wir es kennen und lange noch in Erinnerung behalten werden.