Allein schon der Anfang der Inszenierung Kill your Darlings! Streets of Berladelphia, diesem Zauberwesen von einem Theaterabend, mit dem René Pollesch 2012 noch mal eine neue Richtung in seinen Arbeiten einschlug.
Auf der leeren Bühne der Berliner Volksbühne der berühmte Wagen der Mutter Courage, die die Menschlichkeit an den Krieg und an das Geschäft verkauft. Dann, wie ein ins Leben tretender Herzschlag, der Beat von Bruce Springsteens Streets of Philadelphia und eine sanfte Stimme aus dem Off: „Treten Sie bitte beiseite. Achtung, wir springen. Jetzt. Mut! Mut! Mut!“
Plötzlich schweben und fallen Menschen langsam aus dem Himmel auf die Bühne hinunter. Dort liegen sie erst mal, bis der Schauspieler Fabian Hinrichs aufsteht und fragt: „Wo
iegen sie erst mal, bis der Schauspieler Fabian Hinrichs aufsteht und fragt: „Wo sind wir hier? Was ist das hier? Ich weiß es nicht, was das ist.“Die künstlerische Handschrift von René PolleschSo viel steckt in diesen ersten Minuten: Dieses Aus-dem-Himmel-Fallen; das Überraschend-in-die-Welt-hineingeworfen-Sein und die Frage: Was machen wir hier eigentlich? Bei keiner anderen Regisseur:in der Gegenwart war der Weltbezug der Bühne immer so offensichtlich wie in Polleschs Theaterbildern. Ja, es erfordert Mut zu leben; Mut, Theater zu machen. Es ist jedes Mal ein Sprung, der gewagt werden muss, und sein Theater war deshalb auch ein Spiel mit diesen Fallhöhen.Viel ist von seinem sogenannten Diskurstheater gesprochen worden. Die gesampelte Sprache aus Theorie und Diskursen, verwebt mit Zitaten aus Popkultur, Film, Theater, Literatur und Alltagssprech: „Ja, mein Schatz!“ Das haltlose, suchende Sprechen war das Triebwerk seiner fragenden, zweifelnden Individuen; ein Sprechen, das auch noch Reflexion und Realitätskontrolle vortäuschte, selbst wenn nur noch Sprachlosigkeit vorherrschte.Deshalb war bei Pollesch immer besonders interessant zu sehen, was eigentlich passierte, wenn der Körper übernahm: ein Einkuscheln in die Walnussschale; ein hemmungsloses chorisches Weinen im goldenen Bett; ein verzweifeltes Sich-an-eine-Rakete-Hängen; ein Kampf mit einem überdimensionalen, aufblasbaren Riesenhasen; ein Baggern mit dem Schaufelbagger; ein strampelndes Tanzen im Tintenfischkostüm. Das dabei häufige Ineinanderfallen von Komik und Verzweiflung. Diese Bilder wurden zu seiner unverwechselbaren Handschrift.Wegbereiter des postdramatischen TheatersPollesch studierte in den 1980ern am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen (mehr dazu im Text rechts). In einer Zeit, in der man auch philosophisch „das Ende der Geschichte“ gekommen sah, fing man hier an, sich von der klassischen Handlungsdramaturgie zu verabschieden. Das postdramatische Theater wurde ausgerufen, für das Pollesch ein Wegbereiter wurde. Die Elemente des Theaters wurden neu ausbuchstabiert: Was konstituiert es eigentlich als Ereignis? Atmosphäre, Körper, Rhythmus, Licht, Musik, Stimme und Sprechen als Vorgang. Was kommt, wenn die Handlung wegfällt? Ein Fühlen und Spüren vielleicht? „Es fehlt etwas, es reicht uns nicht.“ Ein Sichreinbegeben auch in dieses wundersame Ereignis, das sich Theater nennt. Natürlich nicht immer, aber sehr oft war bei Polleschs Abenden dieser Drang überdeutlich: hin zu etwas, das ein Mehr verspricht. Eine gemeinsame, geteilte Erfahrung. Irgendwann kam das Publikum in Strömen und wollte einfach nur noch mehr davon.Womit wir beim Kapitalismus und dessen Kritik wären. Da stand Pollesch durchaus in der Tradition von Bertolt Brecht. Das verlassene Individuum an der Hand, maß Pollesch den Bühnenraum aus und wollte wissen, wie Zusammensein gelingt. Wie man der Einsamkeit entkommt. Wie Liebe geht in einer Welt, in der alles einer Marktlogik und Verwertbarkeit unterstellt ist. „Nichts konntest und wolltest du verwerten und das liebte ich so an dir.“ Die Grundfrage von Pollesch lautete vielleicht, wie wir eigentlich unser Menschsein und unsere Nähe zueinander definieren können, wenn alles der Logik des Geldes unterstellt ist. „Ich weiß nicht, was ein Ort ist – ich kenne nur seinen Preis.“ Was macht das mit uns? Daraus erwuchsen die denkbar einfachsten und plötzlich radikalsten Fragen, wie der Titel des Stücks Geht es dir gut?.Ja, wie wird es uns nun gehen, ohne dieses Theater? Was war es genau, das seine Anhängerschaft zu ihm hinzog? Bei der Premiere von Cry Baby 2018 am Deutschen Theater in Berlin sagte ein Theaterregisseur über Pollesch kopfschüttelnd zu mir: „Es ist unfassbar, wie viel Liebe dieser Mensch in sich trägt.“ Daran muss ich oft denken. Vielleicht haben uns die Pollesch-Abende den Glauben an die Liebe geschenkt, obwohl er ja oft versuchte, uns vom Gegenteil zu überzeugen: „Es ist nicht unsere Schuld, dass uns die Liebe nicht gelingt.“ In seinem Theater ist es gelungen, die Einsamkeit für eine Weile hinauszuschieben, sie aufzuheben. Eine gemeinsam erlebte Gegenwartsbewältigung waren diese Momente. Was für ein unverhofftes Glück, was für eine Überraschung, das erlebt zu haben.Placeholder authorbio-1