Armee der Ungeborenen

Fridays for Future Das Klimathema hat den Grünen sensationelle Erfolge beschert. Doch für eine echte Bekämpfung des Klimawandels brechen auch sie zu wenig mit unserem Wachstumsmodell

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Armee der Ungeborenen

Foto: Ina Fassbender/AFP/Getty Images

Die EU-Wahlen haben gezeigt: Es ist nicht nur möglich, durch alternative Themensetzung den Rechtspopulisten die für sie ganz besonders wichtige Aufmerksamkeit zu entziehen (und sie ihnen nur noch für wirklich relevante Skandale leihweise zu überlassen). Es ist durch breites zivilgesellschaftliches Engagement auch der jungen Generation noch möglich, progressive, zukunftsrelevante Themen auf die politische Agenda zu setzen. Die Fridays for future-Bewegung hat über die vergangenen Wochen und Monate die Europawahl nicht nur in Deutschland zu einer Klimawahl gemacht.

Natürlich war es von vornherein wenig überzeugend, dass sich irgendwann fast alle Parteien dieses Thema auf die Fahnen zu schreiben versuchten – auch wenn sie zunächst noch meinten, die Schüler sollten doch lieber in ihrer Freizeit streiken. Die Menschen wählen eben auch auf der progressiven Seite lieber das Original und haben dadurch den Grünen sensationelle Erfolge beschert. Den letzten (zumindest symbolischen) Todesstoß hatten die (ehemaligen) Volksparteien dann von einem 26-jährigen Youtuber bekommen, der in seiner „Zerstörung der CDU“ (und der SPD) vor allem auch mit dem Mythos der „Klimakanzlerin“ Merkel aufräumte.

Und doch mündete seine szientistische Quellenschlacht keineswegs in eine klare Wahlempfehlung für die Grünen. Denn auch die fordern nach Expertenmeinung für einen echten Klimaschutz noch viel zu wenig. Um die Erderwärmung noch irgendwie aufhalten zu können, reicht es eben nicht, das westliche Wachstumsmodell einfach grün umzubauen, also auf Windräder und Solarzellen statt auf Braunkohle zu setzen. Sondern es müsste das Wachstumsmodell selbst grundlegend hinterfragt werden.

Es ist freilich kein Wunder, dass das alles andere als einfach ist. Denn zur Disposition steht hier letztlich nichts Geringeres als das kapitalistische Wirtschaftssystem, wie es sich im Lauf von Jahrhunderten gefestigt hat. Und man muss schon eher optimistisch gestimmt sein, um – wie etwa der Wirtschaftsjournalist Paul Mason – davon auszugehen, dass sich die kapitalistische Ökonomie in Bälde ganz von allein in eine postkapitalistische transformieren werde (wie zuvor auch die feudalistische in die kapitalistische) oder dass dies ganz problemlos auf klima- und sozialpolitisch progressive Weise geschehen wird.

Armee der Untoten

Nicht umsonst hat eine – neben Fridays for future – andere weltweite Massenbewegung, die finale Staffel der TV-Serie Game of Thrones, zuletzt gezeigt, dass Utopien letztlich doch nur etwas für hysterische weiße Frauen sind, die sich anmaßen, mit Gewalt die Unterdrückten dieser Erde zu befreien – ob diese das nun wollen oder nicht. Dann doch lieber politics as usual, oder? Damit lässt sich immerhin die Armee der Untoten besiegen. Aber eine Armee der Ungeborenen? Die ist bisher nicht wirklich in Sicht, außer in Form ihrer freitäglichen Fürsprecher, die als unter-24-jährige allerdings auch nur sechs Prozent der Wahlberechtigten ausmachen. Gegenüber der weiter wachsenden Kohorte von lebenden Untoten im Rentenalter, für die bislang noch überwiegend Politik gemacht wird.

Die Jungen haben also nur dann eine Chance, wenn sie auch die Älteren von der Rettung der Zukunft überzeugen können. Nimmt man als Indikator dafür die Wahlergebnisse der Grünen, ist das bei der Europawahl immerhin nicht ganz schlecht gelungen. Zwar nehmen hier die Stimmanteile fast ebenso deutlich nach steigenden Altersgruppen ab, wie umgekehrt die von Union und SPD zunehmen. Doch die Zuwächse im Vergleich zur Europawahl 2014 sind laut infratest dimap nach der Gruppe der 18-24-Jährigen (16%) am zweit- und dritthöchsten in den Gruppen der 60-69- (11%) und der 45-59-Jährigen (10%). Nur mal sehen, wie das wird, wenn die Grünen versuchen werden, im Auftrag ihrer Stammklientel, den Jungen, etwa für Rentengerechtigkeit zu sorgen.

Aber genau da fangen die Probleme an: Der naheliegendste Weg, um die demografische Degeneration der Rentenformel aufzuhalten, wäre es, auf einen Geburtenanstieg hinzuwirken, jungen Familien die Hoffnung auf die Zukunft zurückzugeben, das Kernthema der Grünen. Unter den aktuellen Gegebenheiten ist allerdings jedes Kind, das in einer Industrienation wie Deutschland zur Welt kommt, nur ein weiterer CO2-Massen-Emittend, der kaum anders kann, als diese Zukunft sogleich wieder zu zerstören. Hier wäre ein scheinbar unmöglicher Spagat zu schaffen, die Menschen wieder für die Zukunft zu begeistern, ohne ihnen zugleich wieder die tieferen Grundlagen dieser Begeisterung zu nehmen. Kein Wunder also, dass sich an diesen Spagat niemand heranwagt.

So prognostiziert etwa der Soziologe Wolfgang Merkel den Grünen keineswegs den Aufstieg zur neuen Volkspartei, und zwar ganz einfach deshalb, weil die jetzt Jungen ja auch irgendwann älter und konservativer werden. Die Grünen seien aber nunmal keine Rentenpartei, auch keine der sozialen Sicherung, sondern nach wie vor eine Partei der Privilegierten. So würde sich in dieser „Post-Volkspartei-Ära“ also das Parteienspektrum weiter nach Kerngebieten aufsplitten. Oder die gerade-noch- (und die gerade-schon-)Volksparteien schaffen es, sich Vertrauen in neuen Kerngebieten zu erarbeiten. In jedem Fall wird es für alle Parteien – und ebenso für neue Koalitionskonstellationen – mindestens „mittlerer Revolutionen“ bedürfen, um nicht nur die verhältnismäßig moderaten Pariser Klimaziele zu erreichen, sondern sie auch mit sozialem Ausgleich und dem Generationenvertrag in Einklang zu bringen.

Bitte kein neuer Kulturkampf!

Dabei wäre es natürlich auch wünschenswert, einen neuen Kulturkampf von quasi-Kriegswirtschaft einklagenden Klimaschützern gegen fleischfressende Vielflieger und Ferienvillabewohner zu vermeiden. Denn schlimmer noch als die mantramäßig von Möchtegern-Liberalen als Schreckgespenst an die Wand gemalte Verbotsmentalität ist – so angemessen sie wiederum sein mag – bloße Katastrophenrhetorik. Angst lähmt, wenn sie zu gewaltig und zugleich diffus daherkommt. Denn wir können nur wissen, dass es sehr schlimm werden wird. Aber wir können nicht wissen, wann, wo und wie genau es geschehen wird.

Wäre es da nicht zielführender, stattdessen wünschenswerte alternative Zukünfte zu zeichnen? Eine „Befreiung vom Überfluss“ etwa (so ein schon etwas älterer Buchtitel des Ökonomen Niko Paech) könnte ein Tor hin zu solchen Zukünften öffnen. In ihnen könnte es auch Zusammenhänge zwischen Freiheit und Gemeinwohl geben, die über die Vorstellung einer automatischen Verteilung von Wohlstand, den sogenannten „trickle-down-Effekt“ von oben nach unten, hinausgehen. Zeit- und Freizeit-Wohlstand könnten hier ebenso eine neue gesellschaftliche Bedeutung erlangen wie die größere Wertschätzung sozialer Berufe. Entscheidend dürfte hier freilich sein, dass Wert und Wohlstand nicht mehr allein in Geld zu messen wäre.

Das größte Problem jedoch am Konnex von Klimawandel und Kapitalismus könnte nicht nur sein, dass unser gegenwärtiger Gesellschaftsvertrag auf Wirtschaftswachstum basiert. Sondern zugleich wurzelt dieses Wachstum in Strukturen eines globalen Konzernkapitalismus, die wesentlich schwerer zu bewegen sein dürften als menschliche Moral und Mentalitäten. Es ist inzwischen eine Binsenweisheit, dass die Politik eher Konzerninteressen folgt als denen ihres eigentlichen Souveräns, der Gesamtheit der Bürger.

Wollen wir aber den Weg über nicht nur klimatologische, sondern auch über politische Katastrophenszenarien zu vermeiden suchen, sollten wir zunächst einmal alles daran setzen, unsere demokratischen Möglichkeiten auszuschöpfen, inklusive „mittlerer Revolutionen“, also radikaler Reformen und Innovationen der Mitbestimmung, auch hier. Doch die letzten Wochen und Monate haben gezeigt, dass auch die herkömmlichen zivilgesellschaftlichen Gestaltungsformen, Demonstrationen und soziale Bewegungen etwa, noch machtvolle Instrumente sein können. Darauf kann man aufbauen.

Dieser Text erschien zuerst bei demokratiEvolution.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Tom Wohlfarth

Politische Theorie und Kultur

Tom Wohlfarth

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