Geld ist unsere Religion

Kulturpsychologie Und am Geld klebt Blut. Christoph Türcke erklärt seinen sakralen Ursprung aus dem Opferritus und zieht Parallelen bis in die Gegenwart. Eine demokratiehistorische Lektüre

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Eingebetteter MedieninhaltIn god we trust? Detail einer FED-Note (1 US-Dollar)

Was ist Geld? Für diese Frage braucht die Ökonomie anscheinend von Zeit zu Zeit Philosophen. Nun hat Christoph Türcke sich an einer Antwort versucht. Dabei hat er mit Mehr! vielleicht nicht wirklich eine Philosophie des Geldes vorgelegt, wie der Untertitel es vorgibt, sondern eher eine psychologisch-philosophische Kultur- und Sozialgeschichte des Geldes. Ein grandioses Buch ist es allemal geworden. Wie schon für David Graeber entsteht auch für Türcke Geld nicht aus dem Tausch, sondern aus Schulden. Nur verfolgt er diese nun noch weiter zurück, und zwar zu den ersten menschlichen Opferhandlungen. Seine These: Geld ist Schuld, die im Opfervorgang entsteht. Es entstammt also dem sakralen Bereich. Dies wird zunächst etymologisch hergeleitet: Das Wort „Geld“ habe nichts mit „Gold“ zu tun, sondern stamme vom angelsächsischen gilt, das im Englischen guilt ja auch heute noch Schuld bedeutet. Dass diese Schuld aber eine ursprünglich sakrale ist, versucht Türcke sodann im Rückgang in die Altsteinzeit sozusagen spekulativ zu belegen.

Die ersten Opferhandlungen erklärt er anhand von Sigmund Freuds Beschreibung des Wiederholungszwangs und deutlich geprägt von René Girards an Freud anschließender Theorie der Gründungsgewalt. Jene Opfer waren Wiederholungen eines 'Urschreckens' der frühen Hominidenkollektive: dass bedrohliche Naturmächte, wilde Tiere, Unwetter oder Seuchen immer wieder einzelne aus ihren Reihen schmerzhaft dem noch weitgehend als Einheit empfundenen Kollektiv entrissen. Zur Schmerzbewältigung gemäß Freuds Theorie wurden diese Gewaltakte zunächst spontan, später rituell wiederholt. Sie wurden zu Opfern. Dazu begannen die Menschen, eine Schuld gegenüber höheren Mächten zu imaginieren, die sie mit den Opfern beglichen. Sie waren Zahlungen an die Naturmächte dafür, von ihnen verschont zu bleiben. Das heißt aber, diese imaginierte Schuld ist selbst schon etwas zweites, ein Derivat gewissermaßen, ihr Ursprung ist der Schrecken und seine wiederholende Bewältigung.

Der Logik dieses Zwangs jedoch entspricht es, dass die Wiederholung mehr und mehr an Schrecken verliert, die Opfer immer weniger schrecklich werden. Die ersten Opfer waren Menschenopfer, sie wurden irgendwann durch gezähmte Tiere ersetzt, schließlich durch Edelmetallgebilde. Das Problem dabei jedoch ist, dass der Schrecken sich in seiner Bewältigung zwar mindert, die Schuld aber erhöht. Denn die Substitution der Opfer durch immer weniger schreckliche ist im Grunde eine List, aus dem Bewusstsein heraus, dass kein Opfer, auch nicht das unentbehrlichste, je genug sein kann für die eigene Verschonung. „Kann man aber ohnehin nie genug zahlen, dann kann man auch weniger zahlen, als man zahlt.“ (43) Das Schuldgefühl allerdings wächst dabei – und wird verdrängt. Zum „erstrangigen Verdrängungsemblem“ ist laut Türcke das Rind geworden (46): etwa durch seinen Heiligenstatus in vielen Kulturen, seine Funktion als universelles Wertmaß im griechischen Kulturraum sowie schließlich im lateinischen Wort für Geld, pecunia, wörtlich „das Viehmäßige“, als das es den Übergang von Vieh- zu Metallwährungen noch lange Zeit später anzeigt (64).

Ursprüngliche Akkumulation

Mit Beginn der Metallopfer aber bot sich den Priestern eine neue Option, mit ihrer Schuld umzugehen. Denn die Metallgebilde wurden zum ersten Mal durch die Opferung nicht verzehrt, sondern häuften sich im Tempel an: für Türcke die wahre „ursprüngliche Akkumulation“ (die Karl Marx erst viel später, bei den neuzeitlichen englischen Kapitalisten, verortet hatte). Hier nun konnten die Priester nicht widerstehen, die sinnlos herumliegenden Metall­gaben einfach wiederverwenden zu lassen, und zwar mit Gebühr für die dadurch wieder einmal entstandene Schuld, die Antastung göttlichen Eigentums. Nur indem die Gottheit – und mit ihr die Priester – am Ende doch noch ein Plus gemacht hatten, war die Wiederverwendung von Opfergaben zu rechtfertigen. So erfanden die Priester den Zins. Wie Gunnar Heinsohn und Otto Steiger erklärt Türcke also den Zins aus dem Eigentum, nur eben nicht aus menschlichem, sondern zunächst aus göttlichem. Durch seine Antastung entsteht Schuld, die mit einem „Mehr“ beglichen werden muss. So entsteht aus der ursprünglichen Akkumulation im Tempel (wie bei Marx) auch die „Plusmacherei“. Ihr Zwang aber ist „deshalb so unersättlich, weil sie die Schuld, durch die sie angetrieben wird, nicht begleichen kann“ (89) und sie zugleich verneint.

Bis heute gibt es einen semantischen „Kronzeugen“ für die sakrale Herkunft dieser Akkumulation: das Wort „Kapital“ (186). Im Lateinischen bedeutete es wörtlich „die Haupt-Sache, das, was den Kopf (caput) betrifft, ihn wert ist, ihn kostet […] das todbringende, todeswürdige Verbrechen.“ Der moderne Kapitalbegriff erinnert so unbewusst an das verdrängte „kapitale Sakrileg, als welches die Anhäufung von Edelmetall einst begonnen hat. Schuldanhäufung als Schuldbegleichung“ (90) und gleichzeitige Schuldverneinung. Neben der Verdrängung kommt es aber hier – obwohl Türcke das nicht explizit so benennt – auch zu einer Art Schuld-Verschiebung: und zwar von den Priestern auf ihre Gebührenzahler. Denn diese haben die Metallgaben ja nicht entwendet, die Priester haben es, womöglich ohne ihre Einwilligung, für sie, letztlich aber vor allem auch für sich selbst getan und lassen sie nun dafür bezahlen. Im Grunde ist das ähnlich wie bei einer modernen Geschäftsbank, die wir dafür bezahlen, dass sie mit unseren Einlagen Geld verdient. Freilich, die Schuld war ursprünglich gegenüber Gott, aber die Zahlungen landeten bei den Priestern.

Natürlich ist diese gesamte Rekonstruktion hochspekulativ. Aber warum sollte Spekulation heutzutage der Finanzwelt vorbehalten sein? In der Philosophie ist sie sicher besser aufgehoben. Türcke gibt ihr zudem eine erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Begründung: „Ein Wissenschafts­ethos, das solche Verfahren ablehnt, weil Indizien nie Beweise seien, bewegt sich auf dem Niveau des Betrunkenen, der seinen Schlüssel, den er im Dunkeln verlor, unter der Laterne sucht, weil es dort heller ist.“ (20) So kritisch und unideologisch, wie Türcke dagegen mit neueren Quellen umgeht, könnte man sein Verfahren geradezu eine „kritische Spekulation“ oder besser noch „spekulative Kritik“ nennen.

Demokratie aus Ökonomie

Die Geschichte des Geldes lässt sich aber nun auch demokratiehistorisch lesen. Während die Entstehung des Geldes offenbar in eindeutig theokratischen, oder genauer in priesterherrschaftlichen Bahnen verlief, brachte die Entstehung der attischen Demokratie auch in ökonomischer Hinsicht gewaltige Neuerungen mit sich, und das im ganz wörtlichen Sinne. Denn auch die oikonomia entstand eben erst – und war gewissermaßen die Voraussetzung der Demokratie. Sie begann laut Türcke, als die ersten weltlichen Herrscher sich im Königshof ihr eigenes Gegenstück zum Tempel erschufen, als eingegrenzten Bereich mit „Palast, Werkstätten und Ländereien samt aller darin Tätigen“ (94), der nun ihr Eigentum war wie das Tempelgut vermeintlich das der Gottheit: im Grunde das erste Eigentum mit einem irdischen Eigentümer. Diese Tempelkopie aber war bald auch Grundmodell für das „Haus“ (oikos) mit allem, was an Grund, Boden, Familie und Sklaven dazugehörte. Oikonomia hieß seine Verwaltung.

Und dies ist es, was die attische Polis von den umliegenden Königsherrschaften wesentlich unterschied, dass ihre Anführer zur Sicherung ihrer Kriegsgefolgschaft dieser eine neue Lebensweise verschafften: als Eigentümer ihrer eigenen „Miniatur des königlichen 'Hauses'“ das Staatswesen mitzugestalten. Die Polis lässt sich am besten als synoikia, als „Zusammensein von Häusern“ beschreiben. Bekanntlich war dieses demokratische Zusammensein auf freie männliche Bürger beschränkt, und als „frei“ galt eben nur derjenige, der frei über ein Haus verfügte. Seine Untergebenen, Frauen, Sklaven und Angestellte waren vom politischen Leben ausgeschlossen.

Die Mitbestimmung in der attischen Demokratie war also an eine bestimmte Form des Privateigentums gebunden. Die neuen Eigentümer hatten ihre Häuser nun selbst zu verwalten, und dieser „Zwang zur oikonomia“, damit auch zur ökonomischen Konkurrenz, machte die Polis schnell zu einem florierenden Wirtschaftsraum, dessen Konkurrenzdruck allerdings nicht jeder Hauseigentümer standhielt. Er verlor dann sein Eigentum an einen anderen und musste sich im Anschluss selbst wieder verdingen. Eine Möglichkeit dafür bot etwa die Leibwache des Königs, der seine Macht nicht zuletzt mit deren Hilfe gegen die aufstrebenden Häuser behaupten musste, im Vergleich zu denen er seinen Söldnern aber womöglich gar nicht viel mehr bieten konnte.

Geniestreich des Outsourcings

An diesem Punkt, so Türcke, begannen die Poliskönige Münzen zu prägen, mit denen ihre Leibwächter bei anderen Häusern einkaufen gehen konnten, sodass sie sie nicht selbst versorgen mussten. Einen „Geniestreich des Outsourcings“ nennt Türcke das, den die Tyrannen allerdings wieder den Tempelpriestern zu verdanken hatten: deren „Umwendung der Priesterlist in Herrschaftstechnik“ (106). Denn die Priester hatten schon vorher, als ihre Dienerschaft zu groß für ein gemeinsames Opfermahl wurde, einem Teil von ihr statt Opferfleisch nur noch die dazu gehörigen Spieße (obeloi) ausgehändigt, mit denen sie sich dann bei den Vorratskammern des Tempels und später auch der Privathäuser bedienen lassen konnten. Die Eisenspieße, später Stäbe, ersetzten die Tyrannen durch Gold- und Silbermünzen. Diese waren also zunächst „Kaufkraft fürs Militär“ (103), breiteten sich aber bald weiter aus.

Die Münze verlangt ihren Empfängern einen Triebaufschub ab, aber verallgemeinert mit diesem neuartigen Abstraktionsvorgang den bisherigen Profanierungsprozess der Opfersubstitution: „sie ist kein besonderes Äquivalent mehr für Höheres, sondern allgemeines Äquivalent für alles Mögliche. Sie tritt aus dem sakralen Schuldenbegleichungszusammenhang heraus“ und überträgt ihn auf die Sphäre des profanen Handels (108). Sie macht damit auch die agora vom Kultplatz zu jenem „Markt“, „der gleichsam das Markenzeichen der attischen Polis ausmacht“ (122). Und mit der Vereinzelung des Münzempfängers geht zugleich auch ein neues Verfügungsrecht einher. Die Münze trennt zwar den Einzelnen von seiner Gemeinschaft ab, aber in dieser Trennung liegt auch eine gewisse Freiheit: „Wer Geld hat, ist 'frei'.“ (108) Das ist die Dialektik des Geldes.

Von Sklaven zu Fronbauern

Die griechische Staats- und Wirtschaftsform hatte über die italischen Kolonien längst auch Rom erreicht, als dieses sich ein paar Jahrhunderte später anschickte zum Imperium zu werden. Dessen Expansion beruhte im Wesentlichen auf der ständigen Akquirierung neuer Sklaven aus den eroberten Gebieten, denn Sklaven durften keine Familien gründen und sich fortpflanzen. Das war der Expansions- und Wachstumszwang des Imperium Romanum. Als aber mit dem Ende seiner Ausdehnung in Germanien auch der Sklavennachschub versiegte, ging es mit der römischen Wirtschaft bergab. Die notdürftige Lösung dieses Problems war es, die Sklaven zu unfreien Fronbauern zu machen und ihnen die Familiengründung zu erlauben. Ähnliches geschah mit den ebenfalls ehelosen Söldnern, die nun gegen Kriegsdienstpflicht Land verliehen bekamen und damit zum Modell der ritterlichen Lehensmänner des späteren Frankenreichs wurden, das aber nicht nur in dieser Hinsicht das Erbe des untergegangenen Römischen antrat.

Denn vom Karolingerreich ausgehend setzten sich dann – nun unter der Herrschaft des Christentums, das den Opfergedanken noch einmal weiter sublimiert und universalisiert hatte – auch die Münzen endgültig durch. Dazu kehrten sie aber zunächst erst einmal wieder in den Tempel, die Kirche zurück. Fronhof und Lehensgefolgschaft funktionierten auch ohne Münzen, doch im Stiftungs- und Schenkungswesen der Klöster fanden sie neue Verwendung. Und auch der erneute Weg in den profanen Handel war bereits vorgezeichnet: Wie im antiken Griechenland die agora um die Tempel, entstand der mittelalterliche Markt um die großen neu entstehenden Kirchenbauten, und auch er erhielt seinen Namen aus dem Sakralbereich: missa, Messe.

Das Geschäftsmodell der Kurie jedoch war es (weiterhin), gegen klingende Münze das Versprechen von Seelenheil zu tauschen. Schenkung, Ablass und Kreuzzugssteuern waren zunächst ihre Mittel. Die Kirche hatte aber auch ihr eigenes Lehensystem. Im ganz profanen Konkurrenzkampf mit den weltlichen Herrschern um Geldquellen verfiel die Kurie dann während ihres Exils in Avignon auf die Praxis, ihre Ämter und Lehen im Grunde meistbietend zu versteigern. Das ge­schah unter dem Decknamen der servitia, „Dienste“. Servitium war das lateinische Wort für Sklavendienst gewesen. Jetzt bezeichnete es eine Praxis, die die neuen Amtsinhaber zwar nicht direkt versklavte, sie aber schon bei Amtsantritt verschuldete und dadurch dazu nötigte, die Arbeiter und Bauern auf ihren frisch verliehenen Gütern ein kräftiges Plus erwirtschaften zu lassen, um die Schuld(en)ihrer Herren zu begleichen. Es kommt also auch hier zu einer gewaltsamen Schuldverschiebung. Mit der „demokratischen“ Sklavenhalterkultur war es zwar lange vorbei, aber von ihr hatte man gelernt, wie man Arbeitskräfte ausbeutet und diese „Ausbeutung fruchtbar machen kann“ (137).

Die Gründungsgewalt des Kapitalismus

Die Ausbeutung nahm dann noch einmal neue Formen an, als man im England des 14. Jahrhunderts die Landwirtschaft zunehmend auf Schafzucht zur Wollerzeugung umstellte, dadurch viele Bauern Land und Arbeit verloren und vertrieben wurden, zugleich aber in den neuen städtischen Wollfabriken gebraucht wurden. Florentinische Kaufleute hatten das lukrative Wollgeschäft vorgemacht, nachdem die päpstliche Kurie soeben durch ihre Lehenversteigerung am Grund und Boden „erstmals die Mentalität der prinzipiellen Käuflichkeit aller irdischen Dinge eingeübt“ hatte (182). Sie etablierte damit einen neuen „Zwang zur Plusmacherei“, und „in der florentinischen Wollmanufaktur hat die Plusmacherei erstmals die Gestalt einer eigenen Produktionsweise angenommen“ (186). Englische Wolle billig zu kaufen, von geflohenen Bauern billig verarbeiten zu lassen und das fertige Produkt teuer zu verkaufen, das machte das Florenz des 14. Jahrhunderts zu einer „Keimzelle des Kapitalismus.“ Zur Entfaltung fehlte ihr lediglich noch das fruchtbare Umfeld, denn „die Kurie war zwar die Brutstätte der Plusmachermentalität. […] Aber Plusmacherei durch materielle Produktion, das war unter der Standeswürde von höheren Klerikern.“ (187) Mit den englischen Lords war das anders. Für sie wurde das Erzielen von Überschüssen aus der Wollproduktion notwendig zum Statuserhalt. Und die dazu hier nicht von selbst geflohenen, sondern gegen ihren Willen vertriebenen und zudem wesentlich zahlreicheren Bauern wurden zum Fundament der städtischen Wollverarbeitung und diese „zum Herzschlag der englischen Wirtschaft. An sie knüpfte im achtzehnten Jahrhundert die Dampfmaschine an.“ (195f.)

Für Türcke ist also „Kapitalismus der Ausgang aus der Schmach eines selbstverschuldeten Niedergangs“, mit dem die englischen Lords ebenso wie die Exilkurie in Avignon zu kämpfen hatten, somit „ohne eine bestimmte Urnot nicht zu begreifen.“ (196f.) Aus dieser Not entsteht Schuld,und diese Schuld wird verschoben und weitergegeben: von Päpsten und Lords, die zum Statuserhalt ein Plus machen mussten, zu kleineren Klerikern, Pächtern und Handwerkern, die im sozialen Aufstieg als Bischöfe oder Unternehmer zunächst Plus machen konnten – allerdings nur, wenn sie sich dafür verschuldeten, wodurch auch sie in die „Triebstruktur der zwanghaften Plusmacherei“ gerieten (197). Deren Folgen bekamen schließlich aber auch – und vor allem – die ausgebeuteten Bauern, Besteuerten und Arbeiter zu spüren, die ganz ohne Schuld in diesen Strudel gespült wurden. Vormals Sklaven, später Fronbauern, jetzt vertriebene Arbeiter: An der Geschichte des Proletariats zeigt sich, „dass die Gründungsgewalt [der kapitalistischen] Produktionsweise gleichsam zu ihrem strukturellen Erbgut geworden ist“, das sich letztlich bis heute fortpflanzt (196).

Königsschulden und Volkssouveränität

Eine weitere Schuldverschiebung fand sodann auch bei der Erfindung des Papiergelds, zugleich der ersten Zentralbankgründung, ebenfalls in England statt, denn auch der Münzverkehr stieß irgendwann an seine Grenzen. Er hatte nach seinem Aufblühen im Mittelalter bald auch Geldwechsler, -verleiher, Wucherer und schließlich Banken hervorgebracht (benannt nach dem italienischen banco, dem Wechseltisch), deren Geschäft, der Handel mit Geld im weiteren Sinne, immer schon parallel zurRealwirtschaft lief. Zunächst entstanden im Nachtschatten des christlichen Zinsverbots, verselbständigte das Bankgeschäft sich schließlich und erfand immer neue, immer bequemere und immer einträglichere Geschäftsmodelle: vom Wechselbrief über das conto corrente bis zum Aktienhandel. Deren gemeinsame Grundlage allerdings war von Anfang an das trickreiche Prinzip der Teildeckung. Die Banken merktennämlich schnell, dass siekeineswegs im selben Umfang, wie sie Wechsel und Gutschriften dafür ausstellten, wirklich Goldmünzen vorhalten mussten, weil im Grunde nie alle Kunden gleichzeitig auf ihr Guthaben zugreifen wollten. Dieser Trick vergrößerte Aktionsradius und Gewinnmargenerheblich – übrigens bis heute.

Die Banken gewannen damals sowohl für die geistlichen, aber vor allem für die weltlichen Herrscher zunehmend an Bedeutung. Denn diese hinkten, was etwa das Einfordern von Steuern anbelangte, der theologischen Autorität der Kirche stark hinterher. Der technische Fortschritt in der Kriegsführung aber ließ seit der Erfindung des Schießpulvers im vierzehnten Jahrhundert den Geldbedarf der Machthaber und somit ihre Abhängigkeit von den Banken immer weiter wachsen. Doch das Verhältnis von Bänkern und Herrschern war ebenso wie von Verschuldung auch immer schon von Schuldenprellung geprägt. Staatsbankrotte waren eine Normalität.

Ende des 17. Jahrhunderts schließlich brauchte auch Wilhelm von Oranien nach der Glorious Revolution Geld für den Krieg gegen Frankreich. Da taten sich reiche Kaufleute zur Bank von England zusammen, um dem König eine sehr große Summe zu leihen – unter der Bedingung, dass sie seine Schulden als Anleihen in Banknoten umwandeln und diese für eigene Geschäfte in Umlauf bringen dürfe. Dass sie mit einer Rückzahlung durch den König erst gar nicht rechneten, geschenkt: Mit diesem ersten echten (europäischen) Papiergeld war das Prinzip der modernen Zentralbank erfunden. Es beruhte darauf, die Staatsschulden durch die Gebühren und Zinsen der Bankkunden tilgen zu lassen, sie also zu vergemeinschaften, nur dass dieses Bankgeschäft letztlich nicht an die ursprüngliche Darlehenssumme gekoppelt war und schließlich zum Selbstläufer wurde.

Mit der Ausgabe von Papiergeld übernahm zum ersten Mal eine private Gesellschaft eine Aufgabe, die zuerst Priester innegehabt hatten, und die dann von Herrschern übernommen worden war. Jetzt war der König nur noch Schuldner, und zwar bei seinen Bürgern. Die neuen Banknoten „waren als Königsschulden zugleich Vorboten einer Volkssouveränität“, die aber politisch noch längst nicht erstritten war (273). Die neue Notenbank verlieh sie dem Volk auch vornehmlich, um dadurch Geschäfte zu machen, deren Konditionen sie wiederum allein mit dem König aushandelte. Viel mehr als ihr Gewinn interessierte sie nicht. „Sie war eine Bürgerinitiative mit antiabsolutistischer Spitze, aber auch mit antidemokratischer.“ Sie war eine „vorpolitische“ Institution (274). Diesen Status hat sie bis heute nicht ganz verloren.

Papiergeldmagie und Verschuldungswahnsinn

Für Türcke aber sind die Zentralbanken die Nachfolger der prähistorischen und antiken Tempel. Wie deren Priester Menschen, Tieren und Metallgebilden durch Weihung und Prägung Opferfähigkeit verliehen, verleihen die Zentralbanken bedrucktem Papier durch Weihung Kaufkraft, ein quasi magischer Akt. Zunächst war die Papiergeldschöpfung freilich noch immer zum Teil an die astralreligiöse Aura von Goldreserven gebunden, nur was über diese Teildeckung hinausging, war echte Neuschöpfung. Es war ein langer Abschied vom Edelmetall, der „alle Insignien eines kollektiven Trauerprozesses“ trug (309). Mit der endgültigen Aufgabe des Goldstandards durch die amerikanische Federal Reserve 1971 jedoch wurde die Geldschöpfung der Zentralbanken zum ersten Mal in der Menscheitsgeschichte „in wörtlichem Sinne absolut“, und war damit der Schöpfertätigkeit Gottes „so nahegekommen wie nichts zuvor.“ (319)

Doch Türcke zufolge erzeugt die Zentralbank mit der Geldschöpfung eben auch Schuld, heutzutage indem sie Kredite an Geschäftsbanken vergebe, die wiederum die Wirtschaft mit Krediten versorgen. Die Zentralbank mache uns alle zu Schuldnern. Diese Deutung ist freilich anfechtbar, da die weitaus größte Zahl an Kreditenals „Giralgeld“ von Geschäftsbanken eigenmächtigvergeben werden, die sich dafür nur zu einem sehr geringen Anteil bei der Zentralbank selbst verschulden beziehungsweise Reserven bilden müssen. Die Geschäftsbanken haben also in diesem „Investiturstreit“ ohnehin schon größere Macht, als es der Zentralbank vielleicht lieb wäre und Türcke es suggeriert. Die Kontrolle über die Geldmengeist damitgroßenteilsauch in privater, nicht nur in (pseudo-)staatlicher Hand.

Dagegen ist es schwer zu bestreiten, dass seit den 1970er Jahren die westlichen Industriestaaten in eine Schuldenspirale geraten sind. Wolfgang Streeck hat sie in seinem Buch Gekaufte Zeit eindringlich nachgezeichnet. Doch anders als Streeck macht Türcke dafür nicht nur Banken, Konzerne und deren politische Spießgesellen, sondern vor allem auch eine technische Neuerung verantwortlich: die „mikroelektronische Revolution“. Denn zum einen bewirkte sie durch Jobkürzungen einen rapiden Rückgang der Steuereinnahmen, die sich hauptsächlich aus Lohnzahlungen generieren und somit vom gleichzeitig gigantischen jobless growth der Unternehmen alles andere als profitierten. Im Gegenteil flossen zum anderen diese Profite größtenteils in die dadurch ebenfalls boomenden Finanzmärkte, die durch die Mikroelektronik zugleich in neue Dimensionen gehoben wurden und mit deren „Regulierungskraft“ das utopische Märchen von der Selbstregulierung der Märkte zum unumstößlichen Dogma werden ließen (348). Bei diesen Finanzmärkten mussten sich nun die Staaten für das ihnen vorher entzogene Geld auch noch hoch verschulden.

Dieser Verschuldungswahnsinn, faule Kredite und Marktradikalismus haben dann gemeinsam zur Krise von 2008 geführt. Die paradoxe Folge, dass nun marktradikale Banken ihren natürlichen Feind, den Staat, 'um Rettung anflehten' (dies übrigens auch ein ursprünglich religiöser Akt, 368ff.), offenbarte nur die Tatsache, dass schon immer „der Neoliberalismus […] ein umgekrempelter Keynesianismus“ war (385), der nun die Staatsverschuldung in absurde Höhen trieb. Nach der Krise ging diese Situation sogar noch eine Drehung weiter: nicht mehr nur „Staatsverschuldung […] bei Banken, sondern für Banken“ (386). Anstatt zu versuchen, das Problem wirklich zu lösen, hat man es im Grunde nur verschlimmert. Die Eurozone hat das ein Jahr später zu spüren bekommen und sich davon bis heute nicht erholt, im Gegenteil.

Zusammenbruchsphantasien

Kein Wunder also, dass Türcke zuletzt noch einige „Zusammenbruchsphantasien“ durchspielt. Wenn er auch Marx’ postuliertes „Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate“ als offenkundig durch das Gegenteil widerlegt erachtet (409ff.), sieht auch er ein deutliches Selbstzerstörungspotenzial im Kapitalismus. Denn dessen Produktionsweise zeigt von Anfang an „eine fatale Neigung, ihre eigene Naturbasis bis zur Zerstörung auszubeuten“, deren staatliche Beschränkung aus rein ökonomischem Kalkül notwendig wurde (430). Und auch das jobless growth der mikroelektronischen Revolution „macht die Pluchmacherei auf eine selbstzerstörerische Weise asozial“, weil mit den durch die schwindenden Lohnzahlungen sinkenden Steuereinnahmen auch die staatliche Infrastruktur verfällt, auf die auch die modernsten Unternehmen noch angewiesen sind (414). Um ihrem Versorgungsauftrag noch halbwegs gerecht werden zu können, müssen sich die Staaten die ihnen entzogenen Summen nun, wie gesagt, verzinslich 'zurückleihen'. In dieser Schuldenfalle bei gleichzeitig steigender Profitrate liegt der eigentliche Ausbeutungszusammenhang der postindustriellen Gesellschaften, nicht in Marx’ Vorstellung von steigender Arbeitskraftauspressung aufgrund Profitrückgangs.

So werden von Türcke schließlich auch die an Marx anschließenden kommunistischen Phantasien und realsozialistischen Experimente noch einmal verabschiedet. Denn zur echten „Vergesellschaftung der Produktionsmittel“ – die im Grunde „eine sakramentale Formel“ darstellt (439) – ist es nie gekommen, weil auch das Geld nie ganz verschwunden ist. Marx hatte mit seinem Wunsch, das „Trennende“, Inhumane am Geld aus der Welt zu schaffen, zugleich dessen emanzipatorische Bedeutung verleugnet (443ff.). Abschaffen ließ sich beides nicht. Diese Dialektik des Geldes macht die Möglichkeit seiner Entbehrlichkeit für die menschliche Gesellschaft aus Türckes Sicht zu einer Utopie. Dass Marx und Engels „den Zusammenbruch [des kapitalistischen] Systems zugunsten eines 'higher state of social production' befördern wollten, war alles andere als abwegig. Nur dass es danach ohne Geld ginge – das ist das schlechterdings Utopische in ihrer Zusammenbruchsphantasie.“ (456) „Das Triebleben des Geldes drängt in der Tat zum 'höheren Kommunismus'. Fatal war nur der Glaube, dieser Kommunismus liege im Bereich des Machbaren.“ (467) Auch die cyberkommunistische Share-Economy des digitalen Zeitalters ist „von [ihrem] Ausverkauf untrennbar“, wenn „mit dem Privateigentum zugleich die gesamte Privatsphäre in Frage“ gestellt wird (455).

Angemessene Löhne gibt es nicht

So waren nach Türckes hochfulminanter Fahrt durch die Geschichte des Geldes bis hin zur eindringlichen Diagnose der gegenwärtigen Krise einige Rezensenten dann doch enttäuscht von seinen Lösungsvorschlägen. In der Tat ersinnt Türcke hier nichts neues, aber wozu auch? Das Problem an den bekannten Mitteln wie Schuldenschnitten, globaler Finanztransaktionssteuer und Abkommen gegen Steuerflucht ist ja nicht, dass sie nichts brächten, sondern dass sie unter den immer gleichen scheinheiligen Ausflüchten gar nicht erst angewendet werden. Dabei hat es etwa Schuldenschnitte immer schon gegeben, die biblische Idee des Jubel- oder Halljahrs ist eine ihrer frühesten Überlieferungen. „Die Vorstellung, dass Staaten Schulden zurückzahlen, ist vollkommen unsinnig“, sagte kürzlich Heiner Flaßbeck. „Wenn Schuld verjähren kann, weil die Wunden, die sie schlug, mit der Zeit vernarben, dann muss auch über Schulden Gras wachsen können“, das ist für Türcke der „humane Grundimpuls“ des Schuldenschnitts (462).

Humanität ist angesichts ihres prinzipiellen Mangels im Geld vor allem auch bei den Löhnen von Nöten. Denn im Grunde „kann es keine angemessenen Löhne geben, nur anständige […]. Im Arbeitslohn wird sinnfällig, was Geld ursprünglich ist: Schmerzensgeld“. In diesem Fall für „Herzblut“, das man nicht entgelten, dem man „mit Geld lediglich Respekt erweisen“ kann (421). Solange aber fremde Arbeit in erster Linie benutzt wird, um ein eigenes Plus zu machen, sind wir auch von diesem Respekt noch Lichtjahre entfernt. Neben höheren Löhnen könnten hier zudem „Mitbestimmungs- und Selbstverwaltungsmodelle“ Abhilfe schaffen (464).

Ganz abgesehen von Gerechtigkeitsfragen aber sorgt jenes Plus durch die sogenannte „Liquiditätspräferenz“ seiner Eigner auch dafür, dass im florierenden Kapitalismus immer mehr Kapital brachliegt. John Maynard Keynes schlug zur Reaktion darauf bekanntlich eine steuernde Zinspolitik und überhaupt eine „antizyklische“ Wirtschaftspolitik vor (373ff.). Türcke treibt diesen Gedanken nun über Keynes hinaus zur Forderung eines antizyklischen Wirtschaftens im „antinomischen Kraftfeld“ zwischen Keynes, Marx und Marktliberalismus (464).

Angesichts des Problems der Teildeckung bei Bankgeschäften und seines gravierenden Anteils an den Möglichkeiten zur „Plusmacherei“ hätte man schließlich gerne noch Türckes Urteil zum Vollreserve-System gehört, das nicht nur die Staatsverschuldung reduzieren, sondern zudem auch die Geldschöpfung zum ersten Mal vollständig in öffentliche Hand legen können soll. Dass er es nicht erwähnt, passt jedoch auch zu seiner anscheinenden Überschätzung der Rolle der Zentralbanken beim gegenwärtigen Geldschöpfungssystem.

Utopie und Ent-täuschung

Allerdings sind für Türcke solche Eingriffe auch nicht wirklich Lösungen, sondern allenfalls Linderungen, die aber Appetit auf mehr machen. Der Schuldzusammenhang des Geldes bietet zuletzt nur eine utopische Lösungsperspektive. Seit der Urzahlung „hat alle Zahlung einen utopischen Überschuss. Wer immer Geld begehrt, begehrt etwas anderes als Geld: Trost, Genugtuung, Geborgenheit, Genuß, Potenz. […] Geld ist ja bloß Ersatz. […] Den Ersatz für die Sache selbst nehmen ist hingegen pervers. Auf diese Perversion stellt das globale System der Plusmacherei das kollektive Triebleben zunehmend ein. Umso dringlicher ist die Rückbesinnung aufs Urgeld. […] Geld kam in die Welt, um seine Anlässe zu beseitigen und damit sich selbst überflüssig zu machen. Das ist und bleibt seine Grundbestimmung, auch wenn sie sich niemals erfüllt.“ (467)

Dieser Utopismus ist, so beeindruckend er daherkommt, dann tatsächlich noch eine gewisse Enttäuschung, und zwar hinsichtlich der eingangs eröffneten Hoffnung auf eine irgendwann vollständige Durcharbeitung des Wiederholungszwangs, unter dem die Herkunft des Geldes aus der Opferhandlung steht. Aber womöglich ist er ent-täuschend auch in dem Wortsinn, dass er mit seiner psychologisch-(prä)historischen Perspektive, dem Bogen vom steinzeitlichen Opferkult zum „Zwangslustprinzip“ moderner Profitmaximierung, neben einem „kritischen Verhalten zum Geld“ vor allem auch eine Klärung der ursprünglichen Schuldverhältnisse ermöglicht.

Mögen wir auch inzwischen freie Wahlen und politische Institutionen haben: Das Geld ist immer noch fern davon, gänzlich demokratisiert zu sein, und es hält dadurch auch unsere Demokratie von ihrer gänzlichen Demokratisierung ab. Wenn wir das Geld aber schon nicht loswerden können, sollte wenigstens seine Demokratisierung doch möglich sein. Das wäre im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen 'Psychotherapie' in Richtung Durcharbeitung sicher ein gewaltiger Schritt.

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Dieser Text erscheint auch bei DemokratieEvolution.
In der Freitag-Community sind zu Türckes Buch bereits zwei Rezensionen erschienen: hier und hier.

Christoph Türcke, Mehr! Philosophie des Geldes, C. H. Beck, 2015

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Tom Wohlfarth

Politische Theorie und Kultur

Tom Wohlfarth

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