Als ich in die Küche ging, hörte ich von Ferne Dudelsäcke quäken. Ich öffnete die Balkontür einen Spalt und stand auf dem Marktplatz von Mordor. Meinetwegen auch im Backstage-Bereich des Zombikantenstadels: Carolin Reiber grunzte die Lorelei und Andy Borg sang im Falsett das Nibelungenlied – verstärkt von einer Million 1000-Watt-Amps.
Das ist nun zwei Jahre her und ich kann mich, Gott sei Dank, nicht mehr an alle Details erinnern, mit denen ich damals in meiner Küche behelligt wurde. Ich weiß allerdings, dass das "MPS – das größte reisende Mittelalter Kultur Festival der Welt" – in wenigen Tagen wieder im Dresdner Ostragehege stat vinden wird. Schon jetzt denke ich voller Verachtung an die tausenden Mittelalterfans, die sich zwei Tage lang von Met und E-Gitarren bedröhnen lassen. Schmollend werde ich mich in den Süd-Ost-Flügel meiner Wohnung zurückziehen um dem hellen Klirren der Ritterturnire zu entgehen. Aber was machen die 1034 Flüchtlinge, deren Zelte dreihundert Meter neben dem Festgelände stehen?
Und was ist aus der guten alten räumlichen Distanz geworden, von der Funny neulich sang?
Ist es Ausdruck sorgfältiger Liebe oder zufälligen Wahnsinns, wenn ich im Kulturbereich einer Online-Zeitung über ein zweitägiges Mittelalterfestival schreibe, dass drei Kilometer vor meiner Haustür und wenige hundert Meter neben den Zelten hunderter syrischer, irakischer und afghanischer Flüchtlinge kreischend um sich greift, während hunderte Nazis mit Moderationstafeln und Klebepunkten bewaffnet diskutieren, wie sie die Fremden am liebsten sterben sehen würden?
Einstein fand heraus, dass sowohl die Zeit als auch der Raum gekrümmt sind. Ich bin aufgrund ungünstiger Umstände (s.o.) eine der wenigen Personen, die ganz genau weiß, wie sich diese Krümmung anfühlt.
P.S.: Natürlich kann in Dresden niemand mehr so leben, wie bisher. Die Welt hat sich in den letzten drei, vier Jahren grundlegend verändert und diese Veränderungen haben diesmal selbst um Dresden keinen Bogen gemacht. Meine Welt ist zu einem anderen Ort geworden, meine Lebenszeit zur anderen Zeit. Ich könnte versuchen, selbst ein Anderer zu werden. Und so weitermachen wie bisher.
Kommentare 8
Guter Text!
Prima. Genaue sprachliche Distanzen zwischen Noergelei, Verzweiflung und grauem Humor.
Ist es Ausdruck sorgfältiger Liebe oder zufälligen Wahnsinns ...?
Weder noch. Ist was anderes. (=
Im verlinkten Text weist Foucault dem 19.Jh. als Obsession Geschichte zu, dem 20.Jh. den Raum. Ich stelle mir gerade die Jahrhunderte personifiziert vor, wie sie, unsterblich, in der ewigen Kleinstadt K, gelegen auf halber Höhe auf dem Weg zum Berg der Erkenntnis, in ihren Reihenhäusern und in der Kneipe rumhängen und sich mit ihren Obsessionen am Leben halten. Hätten sie keine Obsession, würden sie wahn- und unsinnig werden, würden sich auflösen, würden gipfeln in Erkenntnis. Obsession macht sie erkennbar, unterscheidbar. Wird jemals ein Objekt kommen, dass den Erkenntnisstau durchbricht, das eine kleine Nichtigkeit, eine Jahrhundertobsession und Fusion von alldem zugleich sein kann. Und welche Konsequenz hat das dann für das weltgrößte Mittelalterspektakel?
Whoops - das Bild hat sich verändert und einen Text bekommen. Magic? Wui wui! - Danke, ööh Gandalf?
"Wird jemals ein Objekt kommen, dass den Erkenntnisstau durchbricht, das eine kleine Nichtigkeit, eine Jahrhundertobsession und Fusion von alldem zugleich sein kann. Und welche Konsequenz hat das dann für das weltgrößte Mittelalterspektakel?"
Es ist schon da. Die Konsequenz für das Mittelalterspektakel: Auch Pieken und Lanzen gehören zum Ganzen.
Ihr Post, insbesondere die Erkenntnis, dass es hier und da noch ganz schön "mittelalterlich" zugeht, erinnert mich an den Satz von Faulkner: "Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen."
Praktischerweise kommt im Laufe der Zeit immer mehr Vergangenheit dazu. Ich stelle mir das so vor wie einen Komposthaufen, auf den oben immer die Abfälle von heute gekippt werden und in dem es unten schön weitergährt.
Das Mittelalter ist doch auch nur so ein Konstrukt, oder?
wegen dings
(;