Pflege: Nimmt die Ampel-Regierung den endgültigen Kollaps in Kauf?
Gesundheit Pflegeentlastungsgesetz, Reform der Ausbildung, Werbung um Fachkräfte in Brasilien: Trotz allem entlud sich beim Hauptstadtkongress Gesundheit der ganze Frust der Branche. Vertreter der Ampel-Koalition ahnten das wohl – und machten sich rar
Wenn es so weitergeht, wird so eine Unterstützung von Pflegebedürftigen bald Seltenheitswert haben
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Man hätte ein Streichholz hinhalten und einen Feuersturm entfachen können. Der geballte Unmut, der sich auf dem diesjährigen Hauptstadtkongress Gesundheit entlud, in dessen Rahmen in Berlin auch der alljährliche Pflegekongress stattfindet, war massiv wie schon lange nicht mehr. Dass sich Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) nicht blicken ließ, wurde mit Termingründen entschuldigt. Im Eröffnungsplenum spielte die Pflege wieder einmal keine Rolle. Aber dass sich auch viele angekündigte Vertreter der Ampel-Koalition rarmachten und „Abstimmungen im Bundestag“ vorschoben, wurde richtig übelgenommen.
Die Parlamentarier:innen hatten auch allen Grund, sich zu drücken, denn die Empörung über das gerade verabschiedete Pflege
ie Empörung über das gerade verabschiedete Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz (PUEG), auf das viele in der Pflege Tätige gehofft haben, ist so groß, dass sich der Frust über jene Referent:innen ergoss, die in der Sache eigentlich bei den Betroffenen sind. Ein Pflegeheimbetreiber aus Rheinland-Pfalz machte seiner „massiven Enttäuschung“ Luft. „Bei uns in der Pflege wird die Zukunft gemacht!“, kam es aus dem Publikum. Denn nur wenn Alte und Kranke vernünftig versorgt werden, entlaste das auch die Erwerbstätigen. Wenn diese noch stärker in die Pflege eingespannt werden, fehlen sie als Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt. „Die Pflege läuft nur noch, weil sich die Pflege kümmert und auspowert“, beschrieb Sarah Lukuc von den Knappschafts-Kliniken die Situation. Auch sie registriere überall Enttäuschung über die so lange erwartete Pflegereform. Und in den Gängen im Berliner City-Cube war zu hören, dass „es nicht mehr lange so weitergeht“.Pflegerinnen kündigen, Heime schließenAuch wenn momentan keine Streikwelle rollt wie vor einigen Monaten, hat der Frust ein neues Niveau erreicht, und die Abstimmung mit den Füßen besteht darin, dass sich die Pflegenden aus ihrem Beruf verabschieden oder Betreiber Heime schließen müssen. Zwar hat sich in den vergangenen Jahren der Nachwuchs stabilisiert, die Zahl derjenigen, die einen Ausbildungsvertrag abschlossen, sank 2022 aber wieder leicht auf 52.300 (2021: 56.300). Und sie kompensieren bei Weitem nicht diejenigen, die aus Altersgründen in den nächsten Jahren den Beruf verlassen, schätzungsweise über eine halbe Million Beschäftigte, bei gleichzeitigem rasantem Anstieg jener Menschen, die pflegebedürftig werden. „Demografiefestigkeit“ sieht anders aus.Zumindest hat das Bundeskabinett kürzlich das sogenannte Pflegestudiumsstärkungsgesetz auf den Weg gebracht, das eine große Gerechtigkeitslücke zwischen Pflegeschüler:innen, die als Auszubildende arbeiten, und jenen, die eine duale akademische Pflegeausbildung verfolgen, schließt. Denn obwohl die jungen Erwachsenen auf Station alle die gleiche Arbeit verrichten, verdienen die Schüler:innen bis zu 1.200 Euro im Monat, die Studierenden in den meisten Bundesländern aber überhaupt nichts. Auf einer Veranstaltung der Alice-Salomon-Hochschule (ASH) und der Evangelischen Hochschule Berlin war dies im Januar Thema auf einer Veranstaltung. Die Studierenden berichteten bewegend über ihren aufreibenden Alltag zwischen Studium, Lernen, Krankenhaus und Nebenjob, den sie brauchen, um ihre Ausbildung zu finanzieren.Pflege als Hochschul-StudiumDas Gesetz soll hier nun nachbessern. Um die hochschulpolitische Pflegeausbildung – in anderen Ländern ohnehin schon die Regel angesichts des anspruchsvollen Berufsbilds – zu stärken, sollen die Betroffenen nun „eine angemessene Vergütung“ erhalten. Was „angemessen“ ist, wird in der Vorlage allerdings nicht definiert. Johannes Gräske, Professor für Pflegewissenschaft an der ASH, hätte sich gewünscht, dass die beiden Gruppen gleichgestellt worden wären. Zumal die Studierenden im Entwurf als „Auszubildende“ bezeichnet werden, was ihrem Status nicht entspricht und Probleme mit den Einrichtungen, in denen die Studierenden gleichzeitig arbeiten, nach sich ziehen könnte.Ebenfalls soll das Gesetz die Anerkennung ausländischer akademischer Pflegeabschlüsse erleichtern. Das könnte vielleicht auch im Rahmen des kürzlich von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und seinem brasilianischen Amtskollegen Luiz Marinho ausgehandelten Abkommens wichtig werden. Denn in Brasilien haben, im Unterschied zu Deutschland, viele der 2,1 Millionen in Pflegeberufen ausgebildeten Menschen ihren Beruf studiert. Zehn Prozent der Pflegenden seien jedoch arbeitslos, versuchte Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) den Vorwurf, man würde wie der ehemalige Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) in Indonesien nun auch Brasilien Fachkräfte abjagen, zu entkräften. Diese Zahl bezieht sich allerdings nur auf die dort gemeldeten offenen Stellen, nicht auf den tatsächlichen Bedarf, der vermutlich viel größer ist.Hubertus Heil und Annalena Baerbock in BrasilienHeil und Baerbock gingen Anfang Juni auf Werbetour und kündigten an, brasilianischen Pflegekräften, die in Deutschland arbeiten wollen, den Zugang zu erleichtern. „Faire und vereinfachte Strukturen“, versprach Heil, „um den beidseitigen Fachkräfteaustausch zu fördern.“ Wobei es eindeutig nur um den Pflegebereich geht.Tatsächlich scheint der finanzielle Anreiz groß, in Brasilien liegt das Einkommen bei nur einem Viertel oder einem Fünftel im Vergleich zu Deutschland. Allerdings muss hier viel mehr Geld für Lebenshaltungskosten eingeplant werden. Nach den Zahlen der Bundesagentur für Arbeit sind bislang 2.300 brasilianische Pflegekräfte in Deutschland beschäftigt. 700, wünscht sich Heil, sollen jährlich dazukommen.Doch finden die Einwandernden auch tatsächlich vor, wovon sie träumen? Eine Recherche der Berliner Zeitung offenbart, dass der Euphorie oft Enttäuschung folgt. Die ausländischen Mitarbeiter werden als billige Arbeitskräfte eingesetzt, ihre Abschlüsse werden häufig nicht anerkannt. Sie arbeiten doppelt so viel, weil sie ihre ausgepowerten kranken deutschen Kolleg:innen ersetzen müssen und sich davor scheuen, sich krankschreiben zu lassen. Oft fühlen sie sich diskriminiert, weil Pflegekräfte hierzulande viel weniger qualifizierte Arbeiten verrichten dürfen, die Brasilianer:innen medizinisch aber gut ausgebildet sind. Es kommt zu Missverständnissen, Problemen und sogar zu heiklen Situationen, denn es fehlt an Zeit, um die neuen Pflegekräfte einzuarbeiten. Sprachliche und kulturelle Barrieren erschweren das kollegiale Miteinander, insbesondere in einer aufgrund des Personalmangels ständig bestehenden Stresssituation.Hoher KrankenstandViele entschließen sich deshalb, Deutschland wieder zu verlassen, zurückzukehren oder entweder in der Schweiz oder in Skandinavien einen Job zu suchen, wo sie dann genau auf die Kolleg:innen treffen, die es hier ebenfalls nicht mehr ausgehalten haben und abgewandert sind. Es scheint ein Nullsummenspiel, nur dass die Bilanz am Ende für Deutschland verheerend aussieht. „Solange man hierzulande nicht lernt, Pflegekräfte wertzuschätzen, ordentlich zu bezahlen und eine vernünftige Work-Life-Balance zu ermöglichen – also die Fachkräfte zu halten, die noch da sind –, sind alle Bemühungen, neue anzuwerben, sinnlos“, resümiert Ricardo Lange, Intensivpfleger und bekannter Kritiker des Systems in einem Interview. Man müsse zuerst einmal die Grundbasis festigen, bevor man neue Leute ins Land holt und diese dann ebenfalls verschleißt.Das gesundheitlich erreichte Limit hat die DAK Anfang Mai gerade wieder in ihrem Gesundheitsreport ermittelt. Mit sieben Prozent sei der Krankenstand unter Pflegenden überdurchschnittlich hoch. Ein Viertel der Beschäftigten leidet unter Schmerzen, ein Drittel an Schlafstörungen, mehr als die Hälfte sind völlig erschöpft. Viele gehen krank zur Arbeit, was die Gesundheitsrisiken noch verstärkt. Ein Kreislauf, der irgendwann zum endgültigen Kollaps führt, nicht nur für die Einzelnen, sondern für das gesamte System. Wir bräuchten 30, 40 oder 50 Milliarden, um die Pflege angemessen auszustatten, erklärte Erich Irlstörfer, für die CSU im Gesundheitsausschuss, auf dem Gesundheitskongress. Aus der Opposition heraus ist das billig. Man wird ihn irgendwann daran erinnern müssen.