Ein „sexistisches Gedicht“?

Lyrik In Berlin ist ein erbitterter Streit um das spanische Gedicht „avenidas“ an der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule entbrannt. Zu Recht
Ausgabe 36/2017

Lyrik schafft es nicht allzu oft in die Kommentarspalten, selbst wenn Gedichte – wie vor ein paar Jahren anlässlich eines Poetikfestivals in Berlin – mit politischem Nachdruck in der ganzen Stadt plakatiert werden. Um die acht spanischen Zeilen des inzwischen 92-jährigen Eugen Gomringer allerdings ist ein öffentlicher Streit entbrannt, der all jene Lügen straft, die glauben, Literatur vermöge nicht(s) zu bewegen. An der Fassade der renommierten Alice-Salomon-Hochschule, an der Soziale Arbeit, Gesundheit und Erziehung und seit 2006 auch Biografisches und Kreatives Schreiben gelehrt wird, sorgt das Gedicht avenidas („Alleen“) von 1951 für heftigen Wirbel. Überdimensional ist an der Wand der Hochschule zu lesen:

avenidas
avenidas y flores
flores
flores y mujeres
avenidas
avenidas y mujeres
avenidas y flores y mujeres y un admirador

Davon fühlen sich manche Studentinnen belästigt, die das Gedicht als Beispiel einer lyrischen Tradition lesen, die Frauen (mujeres) naturmetaphorisch mit Blumen (flores) gleichsetzt und zum Objekt eines bewundernden männlichen Blickes (admirador) macht. Deshalb hat der AStA schon 2016 gegen das „sexistische Gedicht“ interveniert. Es reproduziere, so das Argument, die „klassische patriarchale Kunsttradition“, in der Frauen nur als „die schönen Musen“ wahrgenommen würden, „die männliche Künstler zu kreativem Schaffen inspirieren“. Die Studierendenvertretung fordert, dass das Gedicht entfernt wird.

Für ein gewisses, sich ohnehin gerade auf die Gender Studies einschießendes Feuilleton ein gefundenes Fressen, zumal es eine Frau war, die 2011 noch amtierende Rektorin Theda Borde, die die „Strahlkraft des Kunstwerks“ gerühmt hatte. Gomringer, ein Mitbegründer der Konkreten Poesie, hatte es der Hochschule als Dank – und gegen Gebühr! – für den an ihn verliehenen Poetikpreis überlassen. Fleißig wird nun nach Studentinnen gefahndet, die sich davon nicht diskriminiert fühlen, um Kunstbanausentum und ideologische Verblendung altfeministisch nervender Trullas vorzuführen.

In der Auseinandersetzung prallt aufeinander, was die Literaturwissenschaftlerin Silvia Bovenschen vor fast 40 Jahren über die imaginierte Weiblichkeit schrieb, um das komplizierte Verhältnis zwischen den Bildwelten des Weiblichen und dem Selbstverständnis schreibender Frauen, zu denen Studentinnen zweifelsfrei gehören, zu klären.

In diesem Fall trifft eine Überhöhung des Weiblichen – und damit seine Herabsetzung – auf eine historische Situation, in der solche Bilder eigentlich überholt sein sollten. Irritierend ist nicht das Gedicht, sondern dass es an einer Schule, an der vor allem Frauen dazu ausgebildet werden, sich schreibend mit eigenem oder fremdem Leben auseinanderzusetzen, seitens der Verantwortlichen nicht mehr Gespür gibt für das problematische Bilderarsenal. Und seitens der Studierenden für die Geschichtlichkeit von Kunst. Unter anderem durch die Kritik am männlich geprägten literarischen Kanon hat sich eine ganze Generation von Frauen emanzipiert. Das Gedicht einfach zu übermalen oder, wie von der Hochschulleitung vorgeschlagen, zu ergänzen mittels eines neuen Verses, schafft diesen nicht aus der Welt. Erst ein neuer Kanon rückt ihn zurecht.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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