Genug gelebt?

Sterbehilfe Haben wir das Recht, unser Ende selbst zu bestimmen? Oder wird dann der Gedanke an Selbstabschaffung Normalität?
Ausgabe 07/2021
Genug gelebt?

Foto: Jeff J. Mitchell/Getty Images

Von einem „Paradigmenwechsel“ und einer „epochalen Abkehr“ vom gängigen Recht war die Rede, als der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts vergangenen Februar das 2015 verabschiedete Sterbehilfegesetz kippte. Es war überhaupt das erste Gesetz hierzulande, das Sterbehilfe regelte, und notwendig geworden, weil der Sterbehilfeverein des ehemaligen Hamburger Senators Roger Kusch verdächtigt wurde, ein Geschäft mit dem Tod zu machen.

Dieser Weg steht nun wieder frei, denn die Richter haben dem Selbstbestimmungsrecht in Sachen Suizid einen so großen Entfaltungsspielraum eingeräumt, dass sie dabei nicht mehr berücksichtigen, ob die Sterbewilligen tatsächlich todkrank sind und aus dem Leben gehen wollen oder sich jung für den Tod entscheiden. Grundsätzlich sei die Freiheit, sein Leben zu beenden, durch nichts zu beschneiden, sondern im Gegenteil zu unterstützen, indem entsprechende todbringende Medikamente zur Verfügung gestellt werden.

So ist aus einem Abwehrrecht, dem nachvollziehbaren Wunsch, sich vor unerträglichem Leiden am Lebensende zu schützen, ein der „Selbstverwirklichung“ genügendes Anspruchsrecht geworden. Das liegt im Trend eines Autonomieverständnisses, das sich bar sozialer Abhängigkeiten wähnt und den Willen des Individuums absolut setzt. Im Karlsruher Richterspruch spricht sich ein Freiheitspathos aus, das keine Grade der Selbstbestimmung mehr kennt. Damit übertrifft das Verfassungsgericht sogar noch die Niederlande mit ihrer weltweit liberalsten Sterbehilfegesetzgebung, die auch aktive Sterbehilfe erlaubt, also die von einem Arzt unterstützte Lebensbeendigung durch die Gabe von Medikamenten oder einer Spritze. Bei den Nachbarn ist eine Diskussion darüber entbrannt, ob die aktive Sterbehilfe auf nicht tödlich Erkrankte ausgeweitet werden soll.

Dieses Urteil bringt auch mich in die Defensive, die befürchtet, das Recht auf Sterbehilfe könnte sich immer mehr ausweiten, ja zu einer impliziten Pflicht werden. Das gilt sowohl für diejenigen, die sich, alt, krank oder anderweitig beeinträchtigt, als Belastung für Familie oder Gesellschaft empfinden, als auch für die Ärzteschaft, der es dann aufgegeben ist, am Tod eines Patienten, unabhängig von seiner Diagnose, mitzuwirken. Deren Reserve, hierbei Beihilfe zu leisten, ist so groß, dass die Richter es für notwendig erachten, Sterbehilfeorganisationen als Dienstleister für die Lebensmüden zuzulassen. Das passt in eine Gesellschaft, die selbst noch für den Todeswunsch eine geschäftsmäßige Lösung findet.

Es ist das eine, Sterbewünsche ernst zu nehmen, sie offen zu thematisieren im Gespräch, Hintergründe, Motive und Handlungsdruck zu beleuchten, aber etwas ganz anderes, sie umzusetzen zu helfen. Nicht jeder Suizidgedanke ist ein manifestes Sterbebegehren, und die Mehrheit der Suizide ist auf eine psychische Erkrankung zurückzuführen, die die „freie Tatentscheidung“ sehr infrage stellt. Ob die Enttabuisierung der Sterbehilfe zu erhöhten Suizidraten führt, ist umstritten, aber darum geht es meines Erachtens auch gar nicht. Vielmehr graut mir vor einer Gesellschaft, in der der Gedanke, sich selbst abzuschaffen, zur Normalität und vielleicht sogar wünschenswert wird. Immerhin ist dies auch den Richtern nicht ganz geheuer, wenn sie dem Gesetzgeber einräumen, hier flankierend tätig zu werden.

Wie schwierig es wird, den Richterspruch in ein „sozialverträgliches“ Sterbehilfegesetz zu gießen, deutet sich schon beim ersten überfraktionellen, von Petra Sitte (Die Linke) und Karl Lauterbach (SPD) vorgestellten Entwurf an. Das Betäubungsmittelgesetz zu ändern, ist die leichtere Aufgabe. Aber wer will in der geforderten Beratung eigentlich beurteilen, ob ein Sterbewunsch selbstbestimmt oder unter Druck zustande gekommen und ob er dauerhaft ist, wie das Urteil es fordert? Typisch für die Beratungsgesellschaft, dass sie sich wie in anderen bioethischen Fragen auch hier in die Pflichtkonsultationen flüchtet und das Problem einfach delegiert.

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Lesen Sie die Widerrede von Michael Jäger auf diesen Debattentext hier

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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