Mit dem Übergang zur Endemie kommt die große Abrechnung mit den Corona-Maßnahmen

Meinung Die Maßnahmen während der Pandemie fühlten sich wie ein politisches Experimentierfeld an. Um die Lektionen aus den Fehlern zu lernen, bräuchte es insbesondere eins: Fähigkeit zur Selbstkritik. Doch die fehlt
Ausgabe 06/2023
Es könnte sein, dass das hier gar nicht nötig gewesen wäre
Es könnte sein, dass das hier gar nicht nötig gewesen wäre

Foto: Ina Fassbender/AFP via Getty Images

Die Masken im Nah- und Fernverkehr sind gefallen, und in zwei, drei Wochen wird mit Mecklenburg-Vorpommern das letzte Bundesland die Isolationspflicht aufheben. Auch die Verträge für die Corona-Warn-App laufen am 31. Mai aus, und sie wird wohl abgeschaltet. Obwohl also die Bestimmungen des Infektionsschutzgesetzes offiziell noch bis zum siebten April gelten, ist im Alltag kaum noch etwas davon zu spüren, die Republik ist seuchentechnisch in den Normalmodus geglitten. Inzwischen hat auch das Robert Koch-Institut (RKI) das Risiko auf „moderat“ heruntergestuft, während die WHO bei ihrer Einschätzung eines „globalen Notfalls“ bleibt. Corona hat – zumindest hierzulande – den Schrecken und damit seine Bedeutung verloren. Es ist kein Zufall, dass just zu diesem Zeitpunkt der Chef des RKI, Lothar Wieler, bislang bestallter Bedenkenträger, seinen Platz geräumt hat. Denn jetzt beginnt die Phase der Umdeutungen und Schuldverschiebungen.

Derzeit stehen die während des Lockdowns verfügten Schulschließungen ebenso wie der Nutzen von Gesichtsmasken in der Kritik. Dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof liegt eine Beschwerde vor, die die mit der Bundesnotbremse verhängten Schulschließungen 2021 betrifft. Die Richter:innen haben die Bundesregierung nun aufgefordert, bis April Stellung dazu zu nehmen, ob diese Maßnahme vor allem am Kindeswohl orientiert gewesen sei. Vorauseilend hat Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) schon einmal die Verantwortung an die Wissenschaft abgedrückt. Die Politik, so ließ er verlauten, habe sich nur an deren Empfehlungen gehalten, doch leider sei deren Kenntnisstand „ungenügend“ gewesen. Schon damals war vielfach kritisiert worden, dass in den Beratungsrunden viel zu wenig kinderspezifische Fachexpertise vertreten war.

Ein Streitfall sind mittlerweile auch wieder die Masken, nachdem eine Cochrane-Veröffentlichung deren Wirkung deutlich heruntergestuft hat. Das Team des unabhängig arbeitenden Cochrane-Netzwerks ist nach Auswertung diverser Studien inzwischen unsicher, ob Masken die Verbreitung von Atemwegsviren tatsächlich verhindern oder zumindest verlangsamen. Es räumt allerdings auch ein, dass viele Probanden, bei denen die Messungen vorgenommen wurden, ihre Gesichtsmasken möglicherweise nicht ordnungsgemäß getragen hätten. Jedenfalls spült die Meldung Wasser auf die Mühlen derer, die schon immer gegen die Maskenpflicht waren und monieren, dass in Nordrhein-Westfalen gerade zehn Millionen Masken vernichtet werden müssen, weil deren Verfallsdatum abgelaufen ist.

Doch was wäre gewesen, wären Schulen nicht geschlossen und Masken nicht getragen worden? Wir wissen es nicht, sondern können nur im Nachhinein nicht indizierte Folgen und Kollateralschäden bilanzieren und gegeneinander aufwiegen. Eine Pandemie ist eben kein wissenschaftliches Experimentierfeld, auf dem sich ein Versuch wiederholen und eine Maßnahme überprüfen lässt, auch wenn viele das Gefühl hatten, im Trial-and-Error-Modus zu leben. Für Menschen – und vor allem für Verantwortung tragende Politiker:innen – gibt es nur das „Lessons Learned“. Die unabdingbare Voraussetzung dafür: Selbstkritikfähigkeit.

Doch die FDP, die nun „mindestens“ eine Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen fordert, wird das Gremium zu nutzen wissen, um sich parteipolitisch zu profilieren.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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