Als Politikberaterin müsse man bereit sein, Kompromisse einzugehen, ist Sigrid Graumann überzeugt. Sie sei mit den Jahren hineingewachsen in dieses Geschäft, das der gelernten Humangenetikerin und Philosophin zu Beginn ihrer Karriere sicher nicht vorschwebte. Denn wer in den 1980er Jahren in die feministische Kritik der Fortpflanzungsmedizin und Pränataldiagnostik involviert war wie die Tübinger Gruppe „Frauen gegen Bevölkerungspolitik“, der Graumann als Studentin angehörte, wollte von Kompromissen nicht so viel wissen. Inzwischen hat die Rektorin, die zwischen der Evangelischen Hochschule in Bochum und Berlin pendelt, gelernt, dass Aushandlungsprozesse Zeit brauchen und den Willen zur Verständigung. Nach acht Jahren und zwei Amtsperioden
ss Aushandlungsprozesse Zeit brauchen und den Willen zur Verständigung. Nach acht Jahren und zwei Amtsperioden scheidet Graumann demnächst aus dem Deutschen Ethikrat aus.Pränataldiagnostik und Kinder mit Down-SyndromUm das bunt bemalte Gebäude unweit der Yorck-Brücken pfeift ein unangenehmer Februarwind. Hier lebt die 61-Jährige in einer großzügigen Altbauwohnung, keine Luxusimmobilie. Mit dem selbst renovierten Genossenschaftshaus hat Graumann die frühe Projekte-Ära in die Lebensmitte verlängert. Nicht sehr groß, aber Energie ausstrahlend und sehr fokussiert am Küchentisch, kann man sich vorstellen, wie sie sich in großer Runde durchsetzt, vertrauend auf ihre Argumente. Zwei Kinder während des Studiums und zwei Promotionen, in Tübingen und Utrecht, verlangten schon der jungen Frau viel Disziplin ab. Für die Ethik entschied sie sich, weil es ihr um „die gesellschaftspolitische Verantwortung von Wissenschaft“ ging. In Tübingen forschte sie über ethische Fragen der somatischen Gentherapie, in Utrecht befasste sie sich mit der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. „Schon damals wurde über die Vermeidung von Kindern mit Down-Syndrom diskutiert. Damit konnte ich ganz schlecht umgehen.“Ende der 1990er Jahre schickte ihr ehemaliger Mentor Dietmar Mieth sie zu einem Planungstreffen für die später eingesetzte Enquetekommission „Recht und Ethik in der modernen Medizin“, in die sie von der SPD delegiert wurde. Das entwickelte sich zu einer Art Kommissions-Selbstläufer, bis Graumann 2016 schließlich in den Deutschen Ethikrat berufen wurde, dieses Mal auf Vorschlag der Grünen. „Ich habe mich am Anfang ziemlich schwergetan. Ich musste kämpfen, dass meine Positionen ernst genommen werden.“ Der Rat hatte damals mit biotechnologischen Fragen zu tun wie etwa Keimbahneingriffen mit der Genschere CRISPR-Cas. „Ich hatte das Gefühl, dass viele Wissenschaftler ziemlich naiv und fortschrittsgläubig waren. Sie glaubten, das sei ein Heilmittel für Krankheiten. Mir war es aber wichtig, zu hinterfragen, was konzeptionell überhaupt funktionieren kann.“Durch die Pandemie geriet plötzlich auch der Ethikrat ins Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit. „Wir hatten eine Ad-hoc-Empfehlung geschrieben, in der auch die Triage thematisiert wurde. Es musste alles schnell gehen, und am Ende wurde redaktionell eine Änderung reingeschrieben, die mir massiv auf die Füße gefallen ist“, erinnert sich Graumann. Es ging darum, dass Ärzt:innen unter Knappheitsbedingungen auch Gebrechlichkeitskriterien von Patient:innen berücksichtigen können. Bei Behindertenorganisationen löste das viel Wirbel aus und führte schließlich zu einem weitreichenden gegenteiligen Urteil des Bundesverfassungsgerichts.Impfen und Schulschließungen wegen CoronaAuch das Thema Impfen war schwierig. „Auf Wunsch von Gesundheitsminister Jens Spahn haben wir zwei Ad-hoc-Empfehlungen verfasst, in denen wir uns auf eine ethisch begründete, berufsbezogene und danach allgemeine Impfpflicht geeinigt haben, vor allem, um das Gesundheitssystem vor Überlastung zu bewahren.“ Doch von der damals aufgeheizten Stimmung blieb der Rat nicht verschont. Weil ein Sondervotum nicht möglich war, scherten einzelne Rät:innen aus, gingen mit ihrer Kritik an die Presse. „Das hat Vertrauen zerstört.“ Die Lehren aus der Pandemie hat der Ethikrat schließlich in einer ausführlichen Stellungnahme gezogen, die durch den Beginn des Ukraine-Kriegs aber kaum zur Kenntnis genommen wurde. Ob Schulschließungen in der Hochphase völlig hätten vermieden werden können, ist sie sich nicht sicher. „Aber es darf nie mehr passieren, dass die vulnerablen Gruppen, Pflegebedürftige oder Kinder mit besonderem Unterstützungsbedarf, so alleingelassen werden.“Unzufrieden ist die scheidende Ethikrätin mit der bald erscheinenden Stellungnahme zu Klimagerechtigkeit. „Wir haben die globalen, sozialen und generationellen Aspekte gut in den Blick genommen. Doch die Stellungnahme verliert ihren Biss, wo es um die Begründung von Freiheitseingriffen geht.“ Dem Ethikrat attestiert sie „mangelnden Mut“, denn es brauche auch „harte Einschränkungen bei Konsumentscheidungen“. Um den Menschen die Angst davor zu nehmen, müsse man das erklären und ethisch gut begründen. Leider wehre sich eine kleine Gruppe im Rat „mit Händen und Füßen dagegen“. Damit falle der Rat hinter das Konzept „verletzlicher Freiheit“ aus der Pandemiestellungnahme zurück, in der gerade benachteiligte und künftige Personen gleichberechtigt berücksichtigt würden. „Für mich bleibt ein bitterer Nachgeschmack am Ende.“