Nous, le peuple. Wir, das Volk?

Kollektive Identität Wieder einmal deutet sich die unheimliche Konjunktur einer kollektiven Identität an. Das Wort "Volk" ist in vieler Munde. Muss das sein?

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Es existiert wirklich, das progressive "Volk", zumindest in Frankreich. Menschen versammeln sich in Lyon nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo
Es existiert wirklich, das progressive "Volk", zumindest in Frankreich. Menschen versammeln sich in Lyon nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo

Foto: JEFF PACHOUD/AFP/Getty Images

Die Beschäftigung mit Geschichte macht nicht klüger, aber weiser, so Jakob Burckhardt. Sie stärkt zumindest das politische Immunsystem für die nächste Identitätskonjunktur, warnt zum Beispiel, wenn es wieder einmal hervorbricht, dieses Wort „Volk“. Ein trotzig-rotziges „Wir sind das Volk!“ ruft heftiges Kopfschütteln hervor. Und selbst die Forderung eines eigentlich sympathischen Politikers nach mehr Rechten für das „Volk“ schmeckt irgendwie schal. Richtig starke Abwehrreaktionen erzeugen Wörter wie „Volkstum“, „Volksgemeinschaft“, „Volksmusik“ oder gar „völkisch“. Das „Volk“ ist, wie Durs Grünbein es anläßlich Pegida in der ZEIT formuliert hat, ein „Monster“ (schon Günter Kunert hatte vom "Gespenst" gesprochen).

Andererseits. Beim französischen „peuple“ fühlen sich viele völlig anders affiziert. Das „peuple“ ist aktiver, irgendwie linker als das so dumpfe deutsche „Volk“ „Le peuple se pose en s'opposant“, schreibt der Historiker Jacques Julliard in dem betreffenden Artikel der „Lieux de Mémoire“. Das Volk setzt sich als „Volk“, indem es sich entgegensetzt. Es gibt keine deutsche Entsprechung. Historische Versuche des Entgegensetzens wurden hier im Keim erstickt. Und 1989 wurde „das“ Volk schnell zu „einem“ Volk, das uns einen weiteren Kohl bescherte. Der sprach noch etwas verdruckst von „In-diesem-uns'rem-Lande“ (Idula). Aber schauen wir etwas genauer hin. Wagen wir zumindest oberflächlich einen Vergleich.

Als „unsere“ Philosophen noch von der „Seele der Völker““ schwärmten, unterschied ein Mirabeau, Revolutionär der ersten Stunde, der nur der Gewalt der Bajonette weichen wollte, im zeitgemäßen Bezug auf Rom folgende Bedeutungen: „populus“, also das Volk als „Nation“, „plebs“, die unteren Klassen, und „vulgus“, vulgo die „Canaille“ (später in marxistischer Vornehmheit „Lumpenproletariat“ genannt). Daraus ergab sich für die progressive Bourgeoisie eine vielversprechende politische Doppelstrategie: mit dem großen „populus“ gegen die Umsturzbestrebungen der „plebs“, und – bei Bedarf - mit der „plebs“ gegen den Immobilismus der Privilegierten. Der „vulgus“ wurde zunächst ignoriert.

Dieses Programm durchzieht die neuere Geschichte Frankreichs: 1789, 1793, 1830, 1848, die Dreyfus-Affaire, 1936, 1945, 1972. Die Allianz der bürgerlichen „Linken“ (der „Blauen“) mit den Plebeiern (den „Roten“) wird immer wieder erneuert: im Pakt zur Verteidigung der Republik gegen die „Weißen“, so das natürlich vereinfachte Schema. In Wirklichkeit gab es auch sehr blutige Auseinandersetzungen zwischen Blau und Rot. Denken wir nur an die Commune. Aber trotz alledem – das Bündnis begründete (immer wieder neu) die republikanische Tradition Frankreichs.

Heute jedoch – und dies ausgerechnet angesichts der Bedrohung der Fünften Republik durch den nationalsozialen Populismus einer Marine Le Pen – ist diese Allianz zerbrochen. Die politische Linke und das „Volk“ haben sich entfremdet. Die „Je-suis-Charlie“- Bewegung zeigte noch einmal ihre (immaterielle) Gewalt, hielt aber nicht lange. Marine le Pen setzt bewusst und erfolgreich auf die Allianz von „weißer“ Bourgeoisie mit dem „peuple“ (auch mit Teilen des „vulgus“ gegen andere Teile desselben).

Eine exemplarische Kontroverse darüber, wie es zu dieser fatalen Situation kam und welche Handlungsmöglichkeiten es dennoch geben könnte, liefern sich Jacques Julliard und der Philosoph Jean-Claude Michéa ("Nietzschéa") in einem anregenden Briefwechsel (1). Michéa ist so etwas wie ein viel gelesener Geheimtipp, „inclassable“ als marxistischer Anarchist, der langsam auch im deutschsprachigen Raum entdeckt wird. Er ist aber auch als konservativer Verteidiger der „kleinen Leute“ (unfreiwilliger) Ideengeber Marine Le Pens. Letzteres ist kein Zufall, sagen zumindest Michéas linke Kritiker. Dazu unten mehr.

Die Linke lässt das "Volk" rechts liegen

Die heutige Linke, so Michéa, strafe das Volk (in der Bedeutung von „plebs“) mit Verachtung. Dieses sei zum Inbegriff des Rückständigen gemacht geworden. Der "kleine weiße" Franzose gelte als xenophob und rassistisch. In der Mitterand-Ära habe man ihn einfach fallen lassen. Mit dem Dahinsiechen der „famille communiste“, mit der Diskurshegemonie der Foucault, Bernard-Henri Lévy und Bourdieu sei die neue Doxa des Anti-Populismus quasi sozialisiert worden. Der sozialistische Thinktank „Terra Nova“ empfiehlt mittlerweile gar den wahlstrategischen Verzicht auf die „kleinen Weißen“ zugunsten der hedonistischen Mitte und ... des „vulgus“, zumindest Teile desselben.

Herrschendes Paradigma sei der permanente Kampf, den das stets gute „Neue“ gegen das „verkrustete Alte“ führt, à la mode formuliert: das „Sozietale“ gegen das „Soziale“. Trauriges Resultat: die Linke (konkret die sozialistische Partei, die Grünen, große Teile der Intellektuellen) sei absolut unfähig, die realen Auswirkungen des neoliberalen Kapitalismus auf das Volk zu begreifen.

Michéa könnte als neuestes Beispiel das berühmt- berüchtigte „Gesetz Macron“ zur Flexibilisierung der Arbeitskraft nennen, das nicht nur verstärkt Sonntagsarbeit vorsieht, sondern, wie der Journalist Emmanuel Lévy in "Marianne" schreibt, die finanziellen Verbesserungen für die Ärmsten von denen finanzieren lässt, die etwas weniger arm sind. Die „Plebs“ bezahlt für den „Vulgus“. Die Linken agieren als Sterbehelfer der „Common decency“ (Orwell), der Anständigkeit und Solidarität der kleinen Leute untereinander.

Julliard ist bezüglich des „Volks“ skeptischer.

Wo ist Ihr Volk, Jean-Claude Michéa? Es hat auf Zehenspitzen die Großstädte verlassen und den einst „roten Gürtel“ von Paris. Einfach so. Ohne eine Adresse zu hinterlassen.

Bitter zitiert er die spöttische Frage einen gewissen Sarkozy, wo denn all die großen Streiks seien, man nehme sie nicht mehr wahr. Und es stimme doch: das „Volk“ stellt die Wählerschaft von Le Pen und gibt damit wiederum den prolophoben „Bobos“ Anlass, es zu „snobben“. Das Volk ist nicht „links“, weil es das „Volk“ ist.

Eine Gesellschaft der „Common Decency“?

Michéas Glaube an die Redlichkeit des „Peuple“ scheint unerschütterlich wie einst der Glaube an die Mission der Arbeiterklasse. Die „Common Decency“ der „kleinen Leute“ ist für ihn eine fast anthropologisch verankerte alte Basis einer neuen, einer besseren Welt. Ihm geht es in der Tradition Proudhons um nichts weniger als eine freie, egalitäre, solidarische Assoziation des Volkes (im Sinne von Plebs), die die ökologischen Gleichgewichte respektiert, die friedliche Zusammenarbeit der Individuen fördert, eine Gesellschaft des „Gebens, Empfangens, Zurückgebens“ (Marcel Mauss) mit dem Primat der menschlichen vor der warenförmigen Beziehung, der konkreten Arbeit und ihrer Würde, der Face-to-face-Kommunikation statt des abstrakten Universalismus. Kurz: eine überschaubare, aber wirklich demokratische Communauté.

Julliard sieht bei aller Sympathie gravierende Probleme: was geschieht in dieser eher statischen Welt mit technischen Innovationen? Wie soll der Fortschritt gestaltet werden? Ist die Mausssche Formel für größere als Nachbarschaftsgesellschaften geeignet? Was tun bei Konflikten? Proudhon, so Julliard, brauche die Hand eines Saint-Simon, die freie Assoziation bedürfe der (demokratischen) Planung, will sie nicht untergehen. Er kommt damit auf alte gewerkschaftliche Programme der 70er Jahre zurück, als er selbst der „organische Intellektuelle“ der CFDT galt.

Julliard schlägt eine politische Reform vor, eine recht tiefgehende allerdings. Er fordert einen Tiers Etat, eine erneuerte republikanische Allianz von linkem Bürgertum und dem „Volk“ mit folgenden (recht alten) Zielen:das Aufbrechen der Parteienherrschaft durch echte demokratische Maßnahmen, z.B. durch die Auslosung von Deputierten, demokratische Kontrolle der Kreditgestaltung (eine alte proudhonistische Idee), demokratische Planung in einer „mixed economy“, Qualitätssicherung der Medien. Möge die „Linke“ als Partei verschwinden, er wird nicht darauf verzichten, diese Volksbewegung „links“ zu nennen. Und zwar nicht nur aus Gewohnheit. Dem kann sogar Michéa zustimmen, der aber daran erinnert,

dass alle diese Vorschläge die Existenz einer mächtigen Volksbewegung voraussetzen, die in der Lage ist, die Dynamik des Kapitalismus in Frage zu stellen.

Damit sind wir bei der Anfangsdefinition angekommen: Das Volk setzt sich als „Volk“, indem es sich entgegensetzt. Aber es ist kein Zufall, dass Michéa hier von einer abstrakten "Dynamik des Kapitalismus" spricht. Vielleicht ist genau dies das Problem: das Volk (als "plèbe" und "peuple") muss sich erstmals nicht einer personalen Ausbeuterklasse (der Aristokratie, der Bourgeoisie, der Nomenklatur, den deutschen Besatzern), sondern einem „System“ entgegensetzen, das (fast) ohne sichtbar „Herrschende“ auskommt. Davon allerdings – und da macht die Geschichte wieder weise – profitieren Parteien und Bewegungen, die die Leerstelle mit imaginierten Unterdrückern und Ausbeutern füllen (die Ausländer, die Juden, die Moslems, die Amerikaner, die Korrupten...). Womit wir bei der Kritik der Kritik angelangt sind. Und die bezieht sich vor allem auf Michéa.

Anthropologischer Populismus

Der Ökonom und Soziologe Fréderic Lordon lobt in der „Revue des Livres“ ausdrücklich Michéas antikapitalistische Intransigenz, kritisiert aber seinen „Anti-Progressismus“ als zu simpel gestrickt Und in der Tat ist die Orwell entliehene „Common decency“ die (notwendige) Schwachstelle bei Michéa. Für Lordon ist es als Konzept viel zu vage, ohne argumentative Konsistenz. Michéa verherrliche das „Volk“, das doch immerhin sehr hässlich sein kann, wie zahlreiche historische Beispiele belegen, die Michéa aber aufgrund des essentialistischen Konzeptes großzügig übersieht. Das Volk kann nicht „schlecht“, sondern nur „verführt“ sein.

Die marxistische Philosophin Isabelle Garo schreibt in „Contretemps“ von einer glaubhaften Erzählung, aber nur, wenn man schnell liest. Dabei bewege sich Michéa - bei allem referentiellen Aufwand – in einer simplen zirkulären Logik: Das „Volk“ basiere auf einer einfachen, aber „anständigen“ Moral, die in der natürlichen Ordnung begründet sei (was Michéa im zitierten Buch aber etwas relativiert, besser: relativieren muss). Dies sei schön wie Edmund Burke, also ganz schön reaktionär. Indem er den Front national argumentativ munitioniere, spiele Michéa mit dem Feuer. Und in der Tat lobte Marine le Pen Michéa für die Einsicht, dass die Linke die Volksklassen, die Arbeiter verlassen hat, um die Ausgeschlossenen und Obdachlosen zu verteidigen. Ein vergiftetes Lob.

Für den Anthropologen Jean-Loup Amselle ist Michéa eine intellektuelle Hauptfigur in der vor allem medial erzeugten „Configuration rouge-brune“ (2). Michéa mythologisiere und enthistorisiere das „Volk“. Er stehe damit in der Tradition der einst hegemonialen ethnologischen Präsupposition von „self-sustaining communities“. Dieser „Primitivismus“ erweise sich bei genauer Analyse jedoch als falsch, so auch bezüglich des „peuple“.

Michéa hält, obwohl er frühsozialistische und anarchistische, also (auch) genuin linke Inhalte vertritt, “rechts“ und „links“ für überholte politische Kategorien. Dies hat er mit vielen „Rouges-bruns“ gemein. Sein Bestehen auf zum Teil idealisierten traditionellen Tugenden des Volkes ist ambivalent, funktionalisierbar sowohl in „Rot“ als auch in „Blonde-Marine“. Seien wir realistisch, so Amselle, und hüten wir uns vor Verklärung und Verachtung des Volkes. Schauen wir einfach genauer hin und analysieren wir (wieder) die sich verändernden Klassenstrukturen. Sozioökonomische Analysen zur Lage der arbeitenden Klassen finden sich allerdings kaum. Die Linke entdeckt immer noch den "neuen Geist des Kapitalismus" von Luc Boltanski und Eve Chiapello (1999!). Einen Eindruck zu den Folgen der neoliberalen Verwüstung vermitteln Michel Pincon und Monique Pincon-Charlot, La violence des riches (2014).

Die Rechte und das „Volk“

Der Appell an das Volk als „emphatische Identitätsformel“ (Niethammer) gehört zum Standardprogramm jedes rechten Volksredners. Elsässer, zum Beispiel, ein deutscher Nachwuchspolitiker im demonstrations-politischen Segment, pflegt sich zu Beginn seiner Reden mit „Meine Zielgruppe ist das Volk“ vorzustellen. Dafür bekommt er von seinen „Volksgenossen“ viele „Jawolls“ und... Imitatoren. Auch er will die „breite Masse der Bevölkerung ansprechen, Menschen mitnehmen.“ Interessant ist seine Definition:

Unter Volk verstehen wir in der französischen Tradition ein politisches Bündnis der Unterdrückten... ein breites gesellschaftliches Bündnis, das neben den unteren Klassen auch die Mittelschichten umfassen sollte, auch die Teile des Kapitals, die sich den spekulativen Angriffen des internationalen Finanzkapitals entgegenstellen.

Der Hinweis auf die französische Tradition soll natürlich den Verdacht des plumpen Rechtspopulismus entkräften. Dass dies so allgemein wie falsch ist, ist nach dem oben Gesagten evident. Das „peuple“ im Sinne von „populus“ und „plebs“ stellte sich den Privilegierten, den Kapitalisten, den Faschisten, den Deutschen entgegen. Als Beispiel sei der „Appel au peuple“ eines Maurice Thorez von 1936 erwähnt, der die freiwillige Zusammenarbeit der Bauern, der kleinen und mittleren Händler und Industriellen mit der Arbeiterklasse postuliert. 1936 war bekanntlich die Zeit der „Volksfront“. Die geforderte Zusammenarbeit richtete sich gegen die konkrete Gefahr des Faschismus.

Die Elsässersche Definition ist eher die Marine Le Pens: das französische Volk“ bilden die vom internationalen, d.h. amerikanischen Kapital unterdrückten „Stammfranzosen“. Strategisch klug bezieht sie sich partiell durchaus auf die republikanische Symbolik. Zu den Standardformeln der Vorsitzenden des Front National gehört die politmetaphorisch transformierte Bastille, das Gefängnis, das sie um das „Volk“ gebaut haben. Sie beendet ihre Reden oft mit dem Aufruf: Libérons le peuple! Farbenpolitisch interessant ist übrigens, dass sie ihre Reden vor einer riesigen Projektion der Trikolore hält, bei der fast nur deren Weiß sichtbar ist. Elsässer bezieht sich seinerseits in bewusster Demagogie auf diese rechtspopulistische Tradition Frankreichs, die von „Patrie, Famille, Travail“, die es mit Pegida, AfD, Le Pen … und Putin gegen das internationale Finanzkapital zu verteidigen gelte. „Peuples opprimés“, unterdrückte Völker, sind in diesem Sinn auch die Russen und Krimtataren in der Ukraine. Schließlich wird der FN auch vom russischen Finanzkapital finanziert.

Zur Verdeutlichung sei auf den französischen Faschisten Marcel Déat verwiesen, Chef des Rassemblement national populaire, der in einer Rede vom 14. Juni 1941 verkündete:

Diejenigen, die zunächst durch all die Mystifizierungen des schlechten Nationalismus getäuscht wurden, der nur im Dienst der Interessen des internationalen Kapitalismus stand,... haben endlich verstanden, dass nichts möglich ist, solange Staat und Nation nicht der Staat und die Nation von allen ist, solange die Nation nicht eine nationale Gemeinschaft geworden ist, in der jeder die Möglichkeit hat, normal und bescheiden (décemment! Auch hier taucht die „Common decency“ auf) zu leben...Und er schließt: Das ist der wahre Sozialismus. Kein einfacher vom Staat vermittelter Interessenausgleich zwischen den Klassen, sondern die Unterordnung aller unter das Ganze. Es geht nicht mehr um Marxismus oder Internationalismus des Proletariats. Es geht um einen nationalen Sozialismus, der aber nichts von seinem wahren Geist verloren hat.

In seiner Analyse des Begriffs "kollektive Identität" interpretiert Lutz Niethammer diese Schmittsche "Identität der Regierenden und Regierten":

Im Ergebnis wird Demokratie als polarer Gegensatz zu Liberalismus, Parlamentarismus und Verständigung bloßgestellt und in die Nachbarschaft zur Diktatur gestellt, wenn nur gesichert ist, dass der die politische Einheit führende Diktator Fleisch vom Fleisch der substantiellen Homogenität des Volkes ist(2).

Man kann sich eine angenehmere Gesellschaft als eine "homogene Volksgemeinschaft“vorstellen, sei sie auch eine à la francaise. Auch bei den vielen "amis du peuple" sollte man genauer hinschauen.

Was folgt?

Die Millionen des 11. Januar 2015, so Jacques Julliard, zeigten, was das „Volk“ ist, besser: sein kann. Und auch die linke Linkspolitikerin Clémentine Autain spricht enthousiasmiert vom unerhörten, umwerfenden historischen Elan. Das ganze Volk hat sich erhoben (3). Sie weist zudem auf Relevantes hin:

Es hätte eine Mobilisierung gegen Muslime oder Immigranten sein können, nach dem, was in Deutschland passiert oder was in Frankreich die Stimme für den Front national bedeutet. Aber so kam es eben nicht.

Vielleicht haben wir damit einen politischen Wegweiser. Es existiert wirklich, das progressive „Volk“, zumindest in Frankreich. Die „kleinen Leute“ gehen auch heute - in extremis - für die republikanischen Werte auf die Straße (die Politikerklasse kurzfristig und separariert vorne weg). Natürlich ist diese gigantische Manifestation medial gehyped worden. Et alors?

Wenn nur die politische Linke daraus lernen wollte. Dafür muss sie sich allerdings aus ihrem Dilemma befreien, dass der Historiker Roger Martelli so darstellt:

Wenn die Sozialdemokratie mit den liberalistischen Fragen (Wettbewerb, Flexibilität) spielen will, hat sie schon gegen den Liberalismus verloren. Wenn sie mit den Fragen des FN spielen will (Identität, Sicherheit), verliert sie auch die nächste Schlacht.

Um nur eine Schlacht zu verlieren, nicht aber den Krieg, muss die „Gauche populaire“ endlich erkennen, dass schon die Art der Fragestellung zu bestimmten Antworten führt. Der FN stellt eben nicht die „guten Fragen“ und gibt eben nicht die „guten Antworten“. Die Linke muss über ihren Schatten springen und die sozialen und kulturellen Bedingungen schaffen, unter denen die „plèbe“ zum politischen „Peuple“ werden kann. Autain fordert zum Beispiel ein „Recht auf Urbanität“: die auch personale Verfügung des Volkes über den öffentlichen und kulturellen Raum, Bildung, Kultur, Gesundheit für alle. Die großen politischen Ereignisse finden (und fanden) im öffentlichen Raum statt:

Auf der Straße haben sich die linken „Peuples“ getroffen, die den Front populaire tragen sollten. In den Werkstätten und den Geschäften wurden die bezahlten Urlaubstage errungen. Auf den Plätzen werden die Erinnerung an 1789 und die neuen sozialen Errungenschaften gefeiert.

"Nous, le Peuple“, Wir, das Volk. So benennt der „Parti de gauche“ Mélenchons das „Bürgernetz der Bewegung für die sechste Republik“. Es erinnert eben nicht an den berühmten deutschen Spruch, sondern an die revolutionäre Situation vor den Ständeversammlungen 1789, aus denen die Nationalversammlung als Vertreterin des Dritten Standes hervorging. Es hat bisher über 80000 „Citoyens signataires“. Eine „Assemblée constitutive“ wird angestrebt.

Das steht in deutschen Landen nun wahrlich nicht auf der Agenda. Das „Wir sind das Volk“ der Retter des Abendlandes vermischt „genos“ mit „demos“. Was dieses Volkes Stimme in Volksentscheiden (die Linke spricht von "Volksgesetzgebung"!) sagen würde, können wir uns leicht vorstellen. Diese „regressive Variante neuer politischer Proteste“ (Oliver Nachwey) hat mit einem progressiven Volksbegriff kaum etwas zu tun.

Kurz: die Situation ist einigermaßen paradox: im klassischen Land des progressiven Volksbegriffs droht die Regression, verkleidet als „progressive Regression“, im klassischen Land der Regression hinkt diese hinterher. Allerdings holt sie auf. Auch, weil sie ziemlich freie Bahn hat.

Und das muss wirklich nicht sein.

(1) Jacques Julliard, Jean-Claude Michéa, La Gauche et le Peuple, Paris 2014 (Flammarion)

(2) Lutz Niethammer, Kollektive Identität. Reinbek 2000 (Rowohlt)

(3) Clémentine Autain, Le retour du Peuple, Paris 2012 (Stock)

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