Terminus Le Pen. Bitte aussteigen!

Terror und Corona Das Attentat vom 16. Oktober trifft auf eine französische Gesellschaft, deren einzige Perspektive ein düsteres Weiterso ist. Ein pessimistischer Kommentar

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Emmanuel Macron versucht sich nach dem Anschlag zu profilieren
Emmanuel Macron versucht sich nach dem Anschlag zu profilieren

Foto: Abdulmonam Eassa/POOL/AFP via Getty Images

Was ist mit Frankreich geschehen? Haben die Preußen, wie 1792, Verdun eingenommen und bedrohen nun Paris mit der Vernichtung? Wütet gar die anarchistische Commune in Paris, wie 1871? Sind die Deutschen in Frankreich eingefallen, wie 1914? Hat Paris kapituliert, wie 1940? Haben wir schon wieder wieder Achtundsechzig?

Nichts von alledem. In Conflans, einem friedlichen Ort nordwestlich von Paris, hat ein 18 Jahre junger Tschetschene einen abscheulichen Mord begangen. Sein Opfer ist ein Geschichtslehrer, der im Unterricht zwei Mohammed-Karikaturen aus Charlie Hebdo behandelt hat. Seitdem scheint die Republik „en danger“. Seitdem wähnen sich viele Franzosen in einem realen Krieg mit einem heimtückischen inneren und äußeren Feind. So wie der Präsident, dessen Polizei zwar beim Schutz des Lehrers versagt hat, der trotzdem noch am Tag des Verbrechens mit bebender Stimme ein Ils ne passeront pas! verkündet und damit sowohl ein altes Kriegslied von 1916 gegen die „Boches“ als auch das No pasarán der Pasionaria von 1936 im Kampf der Republikaner gegen die Faschisten zitiert. Wieder einmal verkündet ein mutiger Präsident den Krieg, einen Welt- und einen Bürgerkrieg gegen den islamistischen Terrorismus.

Macron scheint sich sicher, dass er diesmal – anders als im „Krieg“ gegen das Virus – ein erfolgreicher Master of War sein wird. Die traumatischen Ereignisse von 2015 und 2017 hat keiner vergessen, aber dass ihm die Franzosen vertrauen, wenigstens dieses eine Mal, ist zu bezweifeln. Zu groß ist die Verunsicherung durch die zweite Pandemiewelle. Jeder weiß, welche unheilvolle Rolle das im Wortsinn katastrophale Handeln, besser Nicht-Handeln der neoliberalen Gouvernance Macrons bisher gespielt hat. Die Regierung hat bisher 35.000 Tote zu verantworten – und sie scheint wieder nicht gut vorbereitet zu sein. Die unausweichliche ökonomische Krise wird die Misere noch verstärken. Die Zukunftsangst wächst noch stärker als die Infektionszahlen. Die kollektive Depression von auf sich zurückgeworfenen („konfinierten“) Individuen weitet sich aus. Höchste Zeit also für einen „Ruck“ durch die Republik. Ideale Zeit für einen weiteren „Ruck“ nach rechts.

Dass Terrorismus- und Corona-Angst zeitlich zusammenfallen, ist kein Zufall. Die Analogie bietet sich als „Mastermetapher“ einfach an (und hat historische Vorläufer en masse). Viren sind „Migranten“,„nisten sich“ im „Körper des Wirts“ und im „Gesellschaftskörper“ ein, befallen die „gesunden“ Zellen , sie mutieren, entziehen sich der Bekämpfung, haben eine „uns“ fremde Aktionslogik etc. Sie sind unsichtbar, können überall sein.

Foucault hat den modernen Rassismus als Trennung zwischen dem, was leben, und dem, was sterben muss definiert. Daraus ergibt sich die hierarchische Unterscheidung „aufsteigender“, dem "Leben" verbundener und „absinkender“, dem Tode geweihten Rassen, eine Dichotomie, die halbbewusst dem „Racisme d'Etat“ eingeschrieben ist. Der neuerliche Mord zeigt dies: Samuel Paty wird zum exemplarischen Lehrer des Lebens mit republikanischer Mission (in Anlehnung an die verdienstvollen „Hussards noirs“, die republikanischen Volksschullehrer vor dem Ersten Weltkrieg), sein Mörder hingegen hat sich mit seiner „wilden“ barbarischen Enthauptungsaktion als „lebensunwert“ erwiesen. Kaum jemand stellt in Frage, dass auch der Täter, der – wie zu erwarten – erschossen wurde, ein Recht auf Leben hatte. Wer es trotzdem tut, muss mit einer Anzeige des Innenministers Darmanin rechnen, der zu denen gehört, die kurze Zeit vor der Tat und zielgenau den Begriff „Verwilderung“ popularisierten. Im Herbst 2020 regiert auch in Frankreich die Parole von Bush aus dem Jahr 2001: Either you are with us, or you are with the terrorists“.

In dieser Situation kann sich niemand der „Union sacrée“ der Republik entziehen, abgesehen von den Millionen Bewohnern der „Banlieues“. Aber die gelten der Republik ja als „verloren“. Die politischen Parteien, auch die Sozialisten und Kommunisten, konkurrieren mit martialischen Bekenntnissen zu einer „harten“ Laizität, die selbst immer mehr zur Religion zu werden scheint. Die „Feinde der Republik“ sind konsequent zu eliminieren. Selbst der sich als Humanist verstehende Führer der France insoumise kriminalisiert die „tschetschenische Gemeinschaft“ und fordert strikte Ausweisungen Schuldiger, konzedierend, dass es auch „gute“ Tschetschenen gebe. Immerhin hat Mélenchon die Größe, kurze Zeit später die Tschetschenen um Entschuldigung zu bitten. Sein temporäres Abgleiten zeigt jedoch, unter welchem Druck die Linke in Frankreich steht. Mélenchon gilt nicht nur bei Rechtsextremen als „Islamo-gauchiste“ (als „linksextremer Islamistenfreund“), spätestens seit er an der großen Solidaritätsdemo für Muslime im letzten Jahr teilgenommen hat (nach dem Attentat auf eine Moschee durch ein FN-Mitglied). Haben nicht Medienvertreter auf der Demo tatsächlich einige „Allah-ist-groß-Rufe“ abhören können? In ihrer Begrifflichkeit finden Manuel Valls (einst PS und Ministerpräsident), Bernard Caseneuve (einst PS-Ministerpräsident und Nachfolger von Valls), Michel Blanquer (gegenwärtiger Schulminister und täglicher Mediengast) und Marine Le Pen zueinander. Als „Islamistenfreund“ riskiert Mélenchon seine politische Repektabilität zu verlieren. Entsprechend wird die France insoumise im sozialen Netz unter einer Flut von Hasskommentaren begraben. Sie stammen nicht nur von „Bots“. Das Attentat hat die Zungen gelöst.

Man muss also kein Verschwörungsideologe sein, um zu konstatieren: Der Mord kam „à pic“ („wie gerufen“). Schon vor dem 16. Oktober hatte eine vehemente antimuslimische Sicherheitskampagne eingesetzt. Macron machte sich durch eine mit Unterkieferbetonung vorgetragene Rede gegen den „Separatismus“ der Muslime ein wenig beliebter, sein Innenminister Darmanin, gegen den - nur nebenbei erwähnt - wegen Vergewaltigung ermittelt wird, gab den harten Rechtsaußen, und die wackeren Mediensoldaten standen Gewehr bei Fuß. „Patrouillards“ nannte Rimbaud diese übereifrigen Vaterlandverteidiger. Nach dem Attentat können sie ihre Kompetenz zeigen. Macron beschwört in seiner Ehrenrede „den titanesken Kampf von Samuel Paty“ und erklärt die Republik zur Beschützerin der Lehrer, der Helden der Republik. Diese Ehre war vorher schon den den Krankenschwestern und Ärzten, den Feuerwehrleuten, den Polizisten gewährt worden. Als Dank dürfen sie weiterhin an der Coronafront für den gleichen elenden Lohn ihre Atemwege zu Markte tragen. Darmanin zeigt sich im Fernsehen schockiert darüber, dass es in den großen Supermärkten besondere Regale für „kommunitäre Lebensmittel“ gibt.

Und die Medien übertreffen sich in Republikanismus, wie sie ihn verstehen, also in unerbittlicher Fremdenfeindlichkeit. Locker fordern die Star-Gäste der öffentlichen Stammtische den Militärdienst für alle, die Ausweisung aller Franzosen mit doppelter Staatsangehörigkeit, die Deportation von Dschihadisten , die ihre ihre Strafe abgebüßt haben, auf eine einsame Strafinsel (es muss ja nicht unbedingt Cayenne sein) und die Verpflichtung für alle Franzosen, ihren Kindern „französische“ Vornamen zu geben, zumeist also katholischer Heiliger. Eric Zemmour fordert eine „reaktionäre Revolution“, während Michel Onfray bedauert, dass „wir“ – im Unterschied zu den Muslimen – die „Bedeutung der Ehre“ verloren haben. Und der „islamo-gauchistischen“ France insoumise wird empfohlen, sich ihre „republikanische Jungfrauenschaft“ wieder aufzubauen (was bekanntlich schwierig ist. Und wer attestiert die?).

Juliette Keating, eine Kollegin Samuel Patys, trifft den Punkt:

Die politische Vereinnahmung eines Verbrechens macht das Verbrechen selbst noch schrecklicher.

Sie konstatiert:

...all diese plötzlichen Verteidiger der Lehrer, all diese jähen Befürworter der Erziehung, diese Krokodilstränen, die sie über dem Leichnam verströmen. Aber ihr Blick ist woanders (Là-bas si j'y suis).

Fast alle wissen, zu welchen Fleischtöpfen ihr Blick geht. Und fast alle widert diese Tartufferie an. Seit längerem verweigert sich die Hälfte der Franzosen dem abgekarteten politischen Spiel mittels Wahlenthaltung. Fast alle wissen auch, dass sie damit den „Macro-lépenisme“ (Emmanuel Todd) am Leben halten und eine Präsidentschaft Le Pen riskieren. Aber die bleierne Haltung des „Schlimmer kann es auch nicht werden“ obsiegt. Und ob die Linken, diese angeblich „nützlichen Idioten“ des „großen Austausches“, überhaupt Chancen haben, in den zweiten Wahlgang zu kommen, ist unwahrscheinlicher denn je. Diesbezüglich haben die Regierenden seit Jahrzehnten ganze Arbeit gemacht, Abdoullakh Anzonov, 18 Jahre jung, die seine am 16. Oktober.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden