Seit über einem Jahr befindet sich der Menschenrechtsanwalt Can Atalay in Haft. Bei den Parlamentswahlen im Mai wurde er jedoch ins türkische Parlament gewählt, denn die linke türkische Arbeiterpartei TİP hatte ihn als Kandidaten in der südlichen Stadt Hatay aufgestellt. Laut türkischer Gesetzgebung müsste er nach der Wahl eigentlich freigelassen werden. Das Parlament tagt nun ohne ihn, ein übergroßes Foto ziert stellvertretend seinen Platz.
Der 47-Jährige befasste sich immer wieder mit politisch brisanten Verfahren. Er gehörte zu den Anwälten, die für die Rechte der 301 Bergarbeiter in Soma im Westen der Türkei kämpften, die 2014 bei einem Grubenunglück starben. Auch die Angehörigen der elf jungen M
en der Türkei kämpften, die 2014 bei einem Grubenunglück starben. Auch die Angehörigen der elf jungen Mädchen, die 2016 bei einem Brand im Osten der Türkei in einem religiösen Studentinnenwohnheim ums Leben kamen, gehörten zu seinen Mandanten. Das Wohnheim war ohne Genehmigung erbaut worden, zudem war die Feuertreppe abgeschlossen. Er versuchte stets, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Vor allem aber ist er als Verteidiger der Demonstranten bei den Gezi-Park-Protesten bekannt. Das ist auch der Grund, warum er heute im Gefängnis sitzt.Gegen gierige InvestorenŞerafettin Can Atalay wurde in Istanbul geboren und kommt aus einem politischen Elternhaus. Sein erster Vorname, Şerafettin, stammt von einem Onkel, dem Provinzvorsitzenden der türkischen Arbeiterpartei, der 1971 vor seinem Haus von einem bewaffneten Mann ermordet wurde. Wie viele andere politisch motivierte Morde jener Zeit blieb auch dieser unaufgeklärt. Can Atalay studierte Jura an der Istanbuler Marmara-Universität. Als Anwalt der Istanbuler Architektenkammer verteidigte er auch Kulturgüter und öffentliche Räume der Stadt gegen gierige Investoren und Baukonzerne.Anfang der 2010er Jahre zerstörte die Regierungspartei historisch wichtige Gebäude in Istanbul, wie das Emek-Kino nahe dem Taksim-Platz. Als im Mai 2013 Bagger auf das Gelände des Istanbuler Gezi-Parks vordrangen, die einzige verbliebene Grünfläche inmitten der Stadt, löste dies landesweit Proteste aus. Ein Einkaufszentrum sollte dort entstehen, aufgrund der Proteste wurde diese Entscheidung revidiert. Die Verteidigung des Gezi-Parks war ein Wendepunkt in Atalays Leben. Er vertrat das zivilgesellschaftliche Bündnis „Taksim Solidarität“, das während der Proteste demokratische Veränderungen einforderte. Ein Jahrzehnt später wurde Atalay mit dem kuriosen Vorwurf, die Regierung der türkischen Republik stürzen zu wollen, inhaftiert.Der Gezi-ProtestSeine Mitstreiterin Melda Onur lernte Can Atalay während der Gezi-Proteste kennen. Sie war damals Abgeordnete der sozialdemokratischen Partei CHP. Beide setzten sich dafür ein, den Protestierenden Gehör zu verschaffen. Nach dem Ende ihrer Amtszeit 2015 arbeiteten Atalay und Onur gemeinsam bei der Stiftung für soziale Rechte. Melda Onur erinnert sich an diese Zeit als ihre glücklichste, weil sie gemeinsam unzählige Kämpfe für die soziale Gerechtigkeit führten.Sie glaubt, dass Atalay im Gefängnis sitzt, weil er die Probleme anderer zu seinen eigenen gemacht hat. Wie den Brand, bei dem die elf Mädchen ums Leben kamen. Dieser Fall stehe exemplarisch für vieles, was heute in der Türkei schiefläuft: Islamisierung und illegale Bauprojekte, die auch Anfang des Jahres bei einem Erdbeben mehr als 50.000 Menschen das Leben kosteten. Onur beschreibt Atalay nicht nur als herausragenden Anwalt, sondern auch als engagierten Freund: „Er hat sich immer um die Probleme anderer gekümmert.“Was die türkische Verfassung sagtSie glaubt, dass Can Atalay früher oder später von einem höheren Gericht freigelassen wird. Artikel 83 der türkischen Verfassung sieht Straflosigkeit für Abgeordnete vor. Dafür gibt es viele Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit, wie die Fälle der inhaftierten Abgeordneten Mustafa Balbay, Sebahat Tuncel und Utku Çakırözer zeigen. Atalays Anwalt, Deniz Özen, begann seine Karriere als Praktikant in der Anwaltskanzlei von Can Atalay. Er spricht davon, dass das Urteil bisher nicht von einem höheren Gericht bestätigt wurde, was bedeutet, dass es nicht rechtskräftig ist. Laut Gesetz müsste er deshalb freigelassen werden.Özen bezeichnet den gesamten Prozess als politisch motiviert und als „Verstoß gegen die Verfassung“. 2020, sieben Jahre nach den Gezi-Protesten, endete ein erster Prozess mit einem Freispruch. Was gegen Atalay und die anderen Angeklagten zusammengetragen wurde, beruhte auf illegalen Abhöraktionen. Präsident Recep Tayyip Erdoğan war mit dem Freispruch unzufrieden, gegen die Richter wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. AKP-nahe Medien verleumdeten sie als Gülenisten. Ein höheres Gericht hob das Urteil auf, der Fall wurde wieder aufgerollt. Bei der letzten Verhandlung 2022 wurde Atalay mit den weiteren sieben Angeklagten zu 18 Jahren Haft verurteilt. Der öffentliche Appell, Atalay nach den Wahlen freizulassen, ist bis heute ungehört verhallt. Nach der Freilassung wolle er als Erstes die Menschen im Erdbebengebiet besuchen, sagt sein Anwalt. Und zwar die Stadt Hatay, von wo aus er ins Parlament gewählt wurde.Placeholder authorbio-1