Die türkischen Wähler haben die Entscheidung über die nächste politische Führung ihres Landes vertagt, aber durchaus eine Vorentscheidung getroffen. Ein Abstand von etwa fünf Prozent zwischen Präsident Recep Tayyip Erdoğan und Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu ist bemerkenswert. Er könnte bis zur Stichwahl am 28. Mai eher wachsen als abnehmen. Die Stimmen (5,3 Prozent) des ausgeschiedenen Drittplatzierten Sinan Ogan von derultranationalistischen Ata-Allianz dürften im Stechen eher dem Regierungslager als der Opposition zugute kommen.
Auf einen Macht- und Systemwechsel zu setzen, hat sich als Wunschdenken erwiesen, und das, obwohl die jetzige Regierung durch eine prekäre Wirtschaftslage und nach dem Erdbeben im Februa
n, und das, obwohl die jetzige Regierung durch eine prekäre Wirtschaftslage und nach dem Erdbeben im Februar einen Reputations-, aber offenbar nur in Maßen Autoritätsverlust hinnehmen musste.Sicher kann darüber spekuliert werden, ob und in welchem Maße Erdoğans störrischer Nationalismus diesen 14. Mai und seine Botschaft beeinflusst hat – geschadet hat er sicher nicht. Eine auf Souveränität und Selbstbestimmung bedachte außen-, vor allem regionalpolitische Agenda geriet vielfach zum Vabanque-Spiel, war ambitioniert und keinem Bündniskanon, etwa der NATO, zugetan.Aber sie hat diesem Land zu mehr internationalen Statur verholfen. Seit er 2014 erstmals die Staatsspitze übernahm, hat sich Erdoğan dafür verwendet und folgte einer Intention, die nicht zuletzt vom Werteverständnis, aber gleichsam von der Bündnisphilosophie her alles andere als pro-westlich war.Bei einem Wahlsieg wird Recep Tayyip Erdoğan seinen Kurs fortsetzenDie Erwartungen, dass es unter einem Präsidenten Kemal Kılıçdaroğlu so nicht weitergehen würde, sind in vielen EU-Staaten, besonders in Deutschland, zu laut und zu vorschnell artikuliert worden, als dass sich der türkische Staatschef, sollte er nach dem 28. Mai weiter regieren, daran nicht erinnern wird. Er dürfte es tun und sich darin bestärkt fühlen, auf Kontinuität zu setzen und seinen westlichen Kritikern wenig schuldig bleiben. Ins europäische Geschirr wird sich die Türkei aller Voraussicht nach auch künftig nicht nehmen lassen. So wenig wie sich der NATO-Staat Türkei auf einen NATO-Konsens in der Russland-Politik der Allianz verpflichten lässt. Auch auf die Rivalität mit dem NATO-Mitglied Griechenland wird Verlass sein – bis hin zum gegebenenfalls betont konfrontativen Austrag derselben. Man denke an den 2020 fast aus dem Ruder gelaufenen Streit um die Rechte über Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer. Und es wird weiterhin einen türkische Einfluss auf die Nachkriegsordnung in Libyen geben, um einen Durchmarsch von General Khalifa Haftar nach Tripolis, inklusive einer Machtübernahme, zu verhindern.Erdoğan – und insofern ist er kein rückwärtsgewandter und nur nationalistischer Politiker, als den man ihn gern hinstellt – fand Gefallen am Prinzip der wechselnden, flexiblen Partnerschaften, sodass besonders der Dialog mit Russland im zurückliegenden Jahrzehnt nie abriss. Dabei standen Ankara und Moskau allein beim Konflikt um Syrien seit 2011 auf entgegengesetzten Seiten, sie waren Gegner bzw. Partner Baschar al-Assads und seines Regimes.Vermittler beim Getreideabkommen Wobei sich Erdoğan hier mehr als anderswo verkalkuliert hat. Noch als Premierminister vollzog er 2011/12 eine 180-Grad-Wende, indem er Assad, mit dessen Familie bis dahin gemeinsame Urlaube verbracht wurden, zum Feind erklärte, mit Einmarsch drohte und den islamistisch-konservativen Widerstand gegen Damaskus zu unterstützen begann. Offenbar bestand das Ziel darin, dass moderate Islamisten sunnitischer Konfession in Syrien übernehmen. Sie hätten der Partei und Weltanschauung Erdoğans nahegestanden, wären vom Glauben her den mehrheitlich sunnitischen Türken verwandt gewesen und hätten ausgerechnet in einem nahöstlichen Frontstaat dem politischen Islam Regierungsmacht verschafft.Was dies für das Verhältnis zu Israel heraufbeschwor, das Teile Syriens wie die Golan-Höhen annektiert hält, wurde in Deutschland gerade von denen ausgeblendet, die eine Dämonisierung Assads betrieben, ohne sich für die Konsequenzen zu interessieren, sollte dessen säkulares einem fundamentalistischen muslimischen Regime weichen. Nur ein Beispiel dafür, wie eine ideologisierte und moralisierende Außenpolitik die Sinne für Realitäten trübt. In dieser Hinsicht sind die Unterschiede zum angeblich „neo-osmanischen Visionen“ ausgelieferten Überzeugungstäter Erdoğan bestenfalls gering, wenn überhaupt erkennbar Der türkische Präsident hat seine Gesprächskanäle zu Wladimir Putin bisher auch während des Ukraine-Krieges offengehalten. Die Staatschefs Russlands und der Türkei haben nicht nur zuweilen direkt konferiert. Aus Moskauer Sicht verfügte die Regierung in Ankara neben den Vereinten Nationen über so viel Integrität, dass sie als Vermittler für das bisherige Getreide-Abkommen mit Kiew akzeptiert worden ist. Nicht zu vergessen, es sind auch die türkischen Kontrollen am Bosporus, die der permanenten Evaluierung einer fragilen Übereinkunft gedient haben.So bleibt als vorläufiges Fazit: Nach der Rückkehr Syriens in die Arabische Liga ist auch der bisherige Wahlausgang in der Türkei westlichen Interessen eher nicht gewogen.