Hat Präsident Erdoğan seinen Kredit verspielt, weil die türkische Wirtschaft schwächelt? Ein anhaltender Währungsverfall feuert die Energiepreise an, da die Energieträger aus dem Ausland importiert werden, was wiederum zusätzlich für Inflation sorgt, das Handelsbilanzdefizit und die Schuldenlast des privaten Sektors steigen lässt. Die Arbeitslosigkeit ist zweistellig und führt zum Wohlstandsverlust, was ebenfalls das Vertrauen in die Regierung schwinden lässt.
Hinzu kommt das ökonomisch und psychologisch nicht bewältigte Erdbeben vom Februar, das staatliche Ineffizienz offenbart hat. Zehntausende leben noch in Zelten. Bisher hat die Regierung nur versprochen, innerhalb eines Jahres 300.000 neue Gebäude fertigzustellen. Da
Erdbeben vom Februar, das staatliche Ineffizienz offenbart hat. Zehntausende leben noch in Zelten. Bisher hat die Regierung nur versprochen, innerhalb eines Jahres 300.000 neue Gebäude fertigzustellen. Das ist für ein Land wie die Türkei eine enorme Herausforderung.Investitionen bis zu 120 Milliarden DollarKılıçdaroğlu verspricht nachhaltiges Wachstum und Wohlstand. Er will eine demokratische Wende herbeiführen, zur Rechtsstaatlichkeit zurückkehren, dazu das Vertrauen in die Justiz und Unabhängigkeit der Rechtsprechung wiederherstellen. Die Korruption soll eliminiert und für Transparenz bei öffentlichen Aufträgen gesorgt werden. Könnte es dann gelingen, ein solches Investitions- und Geschäftsklima zu schaffen, dass sich internationale Investoren angezogen fühlen? Experten sind sich jedenfalls einig, dass die Türkei in den kommenden fünf Jahren Investitionen bis zu 120 Milliarden Euro erreichen könnten.Kılıçdaroğlu hat angekündigt, im Falle eines Wahlsieges zu einer orthodoxen Ökonomie der strikten Haushaltsdisziplin zurückzukehren, bei der die Abwehr der Inflation Priorität habe. Somit wäre Erdoğans Politik des billigen Zentralbank-Geldes ein Ende gesetzt. Damit dies ein nur schwaches Wachstum nicht gänzlich drosselt, soll mit Transferleistungen die Binnennachfrage angekurbelt werden. Insofern wäre eine ökonomische Sanierung wahrscheinlich, die vorzugsweise keine neoliberale Rosskur ist.Zwar soll zur orthodoxen Ökonomie zurückgekehrt werden, gleichzeitig aber die Geldpolitik durch eine vorsichtige Finanzpolitik flankiert sein. Mit einer moderaten Steuererhöhung sollen höhere Renten und Mindestlöhne finanziert werden, damit der Konsum angeregt und das Wachstum vorangetrieben werden. Das spiegeln die Ziele der sozialdemokratisch orientierten CHP: entschiedene Armutsbekämpfung, Ausbau des Sozialstaates, Wohnungsübergabe ohne finanzielle Verpflichtungen für die Betroffenen des Erdbebens, üppige Feiertagszulagen für Pensionierte in Höhe von zwei Monatsrenten und ein Unterstützungspaket für Familien.Mehr grüne EnergieAll das weicht vom neoliberalen Paradigma ab. Die Ankündigung der Wirtschaftspolitikerin der CHP, Selin Sayek Böke, „öffentliches Interesse“ über jegliche Partikularinteressen zu stellen, ist ein weiteres Indiz dafür, dass es keine strikte Orientierung am Neoliberalismus geben wird.Gleichwohl lässt die Partei das neoliberale Muster nicht gänzlich hinter sich. Ihre Wirtschaftspolitik steht im Einklang mit dem Vorschlag des säkularen und westlich orientierten Wirtschaftsverbands TÜSİAD. Es ist zu erwarten, dass eine neue Regierung eine Wirtschaftspolitik betreiben würde, die auf deutlich höhere Leitzinsen, eine strikte Steuerdisziplin, einen forcierten technologischen Wandel und mehr grüne Energie setzt.Besseres Verhältnis zur EUJeremy Rifkin, Wirtschaftsberater der CHP, plädierte in seinen bisherigen Auftritten für eine grüne Transformation und Nutzung erneuerbarer Energien. Dies richte sich gegen die bisherigen Ziele der nationalen Energiepolitik, meinen Globalisierungskritiker. Damit würde die energiepolitische Zusammenarbeit mit Russland unterlaufen. Eine grüne Energiepolitik, wie sie von Rifkin gefordert wird, würde sich tatsächlich positiv auf das Verhältnis der Türkei zur Europäischen Union auswirken.Gänzlich jedoch würde eine von Kılıçdaroğlu geführte Regierung keinesfalls mit der Wirtschaftspolitik des jetzigen Kabinetts brechen. Auch sie würde externe und inländische Investitionen fördern, Anreize für exportorientiertes Wachstum schaffen und die Nutzung erneuerbarer Energien fördern. Und sie würde Russland nicht den Rücken kehren.Einschnitte für manche Unternehmer Nutznießer der neuen Wirtschaftspolitik wären Hersteller, die auf Energie, Zwischenprodukte und Technologie aus dem Ausland angewiesen sind sowie private Haushalte besonders im unteren Einkommenssegment. Die Aufwertung der türkischen Lira würde Energienutzer – Haushalte wie Unternehmen – ebenfalls entlasten. Exporteure müssten sich, käme es zu einer starken Lira, auf Einschnitte gefasst machen, desgleichen Bauunternehmer, die bisher von günstigen Krediten wie der Nachfrage nach Immobilien profitierten.