Es hat sich nicht viel geändert

Dokumentation „13th“ von Ava DuVernay zieht eine Linie von der Sklaverei zur Masseninhaftierung
Ausgabe 46/2016

Im Jahr 2014 waren etwa 2,3 Millionen Menschen in den USA inhaftiert. Die Zahl allein erscheint schon hoch, ihr ganzes Ausmaß zeigt sich jedoch erst, wenn sie in Relation gesetzt wird. Das geschieht gleich zu Beginn des von Netflix produzierten Dokumentarfilms 13th von Ava DuVernay (Selma). Es ist Barack Obama selbst, dessen Rede aus dem Off zu hören ist: „Die Vereinigten Staaten sind Heimat von fünf Prozent der Weltbevölkerung, aber von 25 Prozent der Gefängnisinsassen weltweit.“

Das hat auch rassistische Gründe. Während schwarze Männer nur 6,5 Prozent der US-Bevölkerung ausmachen, stellen sie 40,2 Prozent aller Häftlinge. So ist die kluge Analyse, die 13th vorlegt, höchst aktuell. Sie stellt einen Zusammenhang her zwischen Masseninhaftierung und Sklaverei, die seit 1865 als abgeschafft gilt durch den titelgebenden 13. Zusatzparagrafen der US-Verfassung. Darin wird das Ende von Sklaverei und Zwangsdienst zwar verbrieft, aber eine entscheidende Einschränkung gemacht („außer als Strafe für ein Verbrechen“).

In DuVernays Perspektive erscheint die Entwicklung auf erschreckende Weise konsistent. Aus Sklaven werden nach dem Sezessionskrieg Strafgefangene, die, für Nichtigkeiten verurteilt, als billige Arbeitskräfte schuften müssen. Die Kriminalisierung ist umfassend. Der Film Birth of a Nation, der 1915 einen Gründungsmythos der USA schafft und von Weißen gefeiert wird, stellt Afroamerikaner als animalische Wilde und Vergewaltiger dar, er glorifiziert den Ku-Klux-Klan. Es folgt eine Zeit der Lynchmorde, der Segregation und – nach den Erfolgen der Bürgerrechtsbewegung – der erneuten Kriminalisierung durch den „War on Drugs“, ausgerufen von Nixon, durchgesetzt von Reagan, Bush und Clinton.

So entsteht ein Passepartout der Deutungsweisen: ökonomisch, rassistisch, machtpolitisch, medial, popkulturell. Wo im Film Überfrachtung droht, fügt sich alles schlüssig zusammen. Die Gegenwart eines privatisierten Strafvollzugs, der aus wirtschaftlichen Gründen auf Kriminalisierung baut, erscheint in 13th nicht isoliert, sondern als historische Konstante.

Das Gelingen ist den vielen Protagonisten zu verdanken. Es sind Autorinnen, Wissenschaftler, Aktivistinnen oder Politiker, die mit ihrer Wut zwar nicht hinter dem Berg halten, zugleich aber nüchtern die Probleme darlegen. Unter ihnen ist die Bürgerrechtlerin Angela Davis, deren Argumente an Schärfe nichts verloren haben, oder die Autorin Michelle Alexander, die mit The New Jim Crow vor einigen Jahren ein vielbeachtetes Buch über die Masseninhaftierung veröffentlicht hat. Auch kommt die Gegenseite zu Wort, beispielsweise der Republikaner Newt Gingrich, der sich erstaunlich selbstkritisch gibt. Wichtig sind zudem die in Schwarzweiß gehaltenen grafischen Einschübe, die zentrale Aussagen hervorheben und schwer zu greifende Statistiken und Zahlen illustrieren.

Am stärksten wirkt in 13th das Originalmaterial. Da sind Bilder der Opfer von Lynchmorden, von Polizeiattacken auf Bürgerrechtler, Ausschnitte aus Nachrichtensendungen über den „War on Drugs“, Videoaufnahmen aus Haftanstalten, die Gewalt und wie Tiere gehaltene Insassen zeigen. Da ist das Video des sterbenden, in seinem Wagen von der Polizei erschossenen Afroamerikaners Philando Castile, das von seiner Verlobten live auf Facebook gestreamt wurde. Da sind die Szenen aus dem Wahlkampf, in denen Anhänger Trumps, von ihm angestachelt, Black-Lives-Matter-Aktivisten aus dem Saal prügeln – geschnitten gegen Szenen aus den 60er Jahren: Vieles hat sich eben nicht verändert.

Die Bilder sind schwer zu ertragen, doch in ihnen liegt auch eine spannende Umdeutung. Dienten die Aufnahmen lange Zeit als Mittel, um Schwarze zu kriminalisieren, werden sie nun zur Anklage gegen diese Gewalt. Hierin liegt am Ende des Films die Hoffnung: dass die strukturellen Probleme im Smartphone-Zeitalter leichter sichtbar gemacht werden können.

Info

13th Ava DuVernay USA 2015, 100 Minuten

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Geschrieben von

Benjamin Knödler

Product Owner Digital, Redakteur

Benjamin Knödler studierte Philosophie und Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU). Neben seinem Studium arbeitete er als Chefredakteur der Studierendenzeitung UnAufgefordert, als freier Journalist, bei Correctiv und beim Freitag. Am Hegelplatz ist er schließlich geblieben, war dort Community- und Online-Redakteur. Inzwischen überlegt er sich als Product Owner Digital, was der Freitag braucht, um auch im Netz viele Leser:innen zu begeistern. Daneben schreibt er auch weiterhin Texte – über Mieten, Stadtentwicklung und Podcasts. Er ist außerdem Co-Autor zweier Jugendbücher: Young Rebels (2020) und Whistleblower Rebels (2024) sind im Hanser Verlag erschienen.

Benjamin Knödler

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