Leipziger Buchmesse: Die Nominierten im Bereich Sachbuch/Essayistik

Literatur Ob Frauenhass, Terror oder Bürgersinn: Die Liste der Bücher, die für den diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse nominiert sind, liest sich ausgesprochen vielseitig. Ein Überblick
Ausgabe 09/2024
Leipziger Buchmesse: Die Nominierten im Bereich Sachbuch/Essayistik

Illustration: der Freitag

Tödliche Institutionen

Wäre der Erfolg des westlichen Kapitalismus auf Langfristigkeit angelegt, so könnten manche Menschheitsprobleme möglicherweise effizienter gelöst werden. Doch unter dem Damoklesschwert rasch zu erzielender Rendite sind global agierende Konzerne weniger am allgemeinen Wohl in der fernen Zukunft interessiert. Dasselbe gilt für lediglich in Wahlperioden denkende Politiker:innen und Parteien. Welche Folgen diese kognitive Engmaschigkeit hervorruft, lässt sich insbesondere am Klimawandel beobachten. Bereits jetzt prognostizieren die meisten renommierten Klimaforscher:innen, dass das 1,5-Grad-Ziel nicht mehr einzuhalten sein wird. Liegt das nun an fehlendem Willen? Oder mangelndem Verantwortungsbewusstsein? Das Sachbuch von Jens Beckert entmoralisiert den Schuld-Diskurs und macht als Ursache für das planetare Versagen vor allem das Institutionengefüge aus, das schlichtweg mit anderen Zeitrechnungen und wenig anpassungsfähigen Strukturen operiert. Gebraucht werden daher aus Sicht des Autors, Hochschullehrers und Direktors am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung vor allem zutiefst menschliche Skills wie Solidarität und die Kreativität für kluge Strategien zur Herstellung nachhaltiger Resilienz.

Verkaufte Zukunft. Warum der Kampf gegen den Klimawandel zu scheitern droht Jens Beckert Suhrkamp 2024, 40 S., 28 €

Das System dahinter

Beklemmende Tatsache: Jeden dritten Tag tötet ein Mann seine Ex-Partnerin. Hinzu kommen oft im Verborgenen stattfindende Exzesse häuslicher Gewalt, die häufig spät, manchmal sogar nie an die Öffentlichkeit gelangen. Zumeist aus Scham der Opfer. All die vermeintlichen Einzelfälle lassen sich so zu einem totalen Systemversagen addieren, das letztlich auf fortbestehenden patriarchalen Mustern gründet. Und zwar in sämtlichen Bereichen der Gesellschaft, wie Christina Clemms analytische Anklage des Chauvinismus, eine Fortschreibung ihres Buchs Akteneinsicht. Geschichten von Frauen und Gewalt von 2020, darlegt. Als Strafverteidigerin hat die 1967 geborene und heute in Berlin lebende Juristin im Laufe ihrer Karriere mit Aberhunderten Fällen sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt zu tun. Auf Basis einschlägiger und wahrer Beispiele rekonstruiert sie die Ursachen für die Brutalität gegenüber Frauen. Längst besteht sie nicht allein im Hass der Männer, sondern äußert sich ebenfalls in Strukturen der Medien oder des Gesundheitswesens, wo in Teilen noch immer fehlende Sensibilität für das Thema vorherrsche. Auf die Diagnose jener Gewaltgesellschaft folgen übrigens auch therapeutische Ideen, die allen voran auch von der Expertise Clemms auf dem Gebiet der Gewaltprävention zeugen.

Gegen Frauenhass Christina Clemm Hanser Verlag 2023, 256 S., 22 €

Sonstige Katalysatoren

Als Mitbegründer des Harun Farocki Instituts, einer Archiv- und Forschungsplattform zu Bildpolitik und Dokumentarismus in Berlin, ist der 1962 in Hamburg geborene Kurator und Kulturwissenschaftler Tom Holert bestens vertraut mit den gängigen historiografischen Arbeitsweisen. Zumeist unterliegen sie dem Versuch, aus losem Material der Vergangenheit eine stringente Erzähllinie zu rekonstruieren. In seinem neuen Buch ca. 1972. Gewalt – Identität – Methode wendet er hingegen andere Methoden an. Mithilfe von zusammengetragenen und minutiös ausgewerteten Fotografien, Filmen, Studien, Zeitschriften sowie Werken der bildenden Kunst beschreibt er eine Wendezeit abseits der großen Reden und Ereignisse im titelgebenden Jahr. Deutlich wird dabei eine Atmosphäre latenter Gewalt im Schatten des Terrorismus. Wo sich eine zunehmende Skepsis gegenüber der politischen Nachkriegsordnung verbreitet, wirken im Untergrund radikale Kräfte. Sie, die ihr Stimmrohr nicht in den Mainstreammedien fanden, sichtbar zu machen, ist Holerts Ziel, dessen Betrachtung von 1972 letzthin zum Panorama einer ganzen Epoche führt. Deutlich wird hierbei, dass die herangezogenen Zeitdokumente nicht nur zur Forschung dienen, sondern sich damals auch als Katalysatoren der Gewalt selbst erwiesen.

ca. 1972. Gewalt – Identität – Methode Tom Holert Spector Books, 544 S., 36 €

Innere Distanz zur DDR

Ist unsere Demokratie bedroht? Und wenn ja: warum? Die Studie Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren der in Frankfurt an der Oder geborenen Professorin für Allgemeine Geschichte an der Universität Bielefeld, Christina Morina, gibt Antworten auf diese brisanten Fragen, indem sie den Blick auf die Genese des innerdeutschen Ost-West-Gegensatzes in der Nachkriegszeit richtet. Sie untersucht die Einstellungen von Bürgern und Bürgerinnen in der jungen BRD und in der DDR, wobei sie bei letzteren verblüffende Beobachtungen macht. Zwar identifizierten sich ihr zufolge zahlreiche Ostdeutsche mit den Idealen der sozialistischen Republik, blieben aber gegenüber dem Staatsapparat auf innerer Distanz. Da jene tief verankerte und lange gewachsene Institutionenskepsis, die darüber hinaus noch an einen geradezu utopischen Bürgersinn gekoppelt war, nach der Wiedervereinigung keinen gesellschaftlichen Raum fand, kam es zur heute oft beklagten und sich in Wahlumfragen niederschlagenden Systementfremdung. Allzu willkommen erschienen da Orientierungsangebote einer neuen nationalistischen Rechten im Westen. Aus dieser Gemengelage heraus zeichnet Morina so eine komplexe Geschichte von Verdrängung und Ignoranz nach, deren fatale Folgen die liberale Grundordnung nun zunehmend unter Legitimationsdruck setzen.

Tausend Aufbrüche Christina Morina Siedler Verlag 2023, 400 S., 28 €

Jahrhundertstimmen

Welche Sätze prägen eine Epoche? Vielleicht diese: „Ich bin ein Berliner“, „Wir wollen mehr Demokratie wagen“, „Wir sind das Volk“. In ihnen und vielen anderen, die die Herausgeber:innen mühevoll in den deutschen Rundfunkarchiven entdeckten und zusammentrugen, manifestieren sich atmosphärische Trends, Visionen und Hoffnungen, Ängste, Richtungsentscheidungen und Diskurse, die letztlich den Lauf der Nachkriegsgeschichte intensiv beeinflusst haben. Mit ungefähr vierzig Stunden Tonaufnahmen lässt sich der zweite Teil der monumentalen Originaltonedition zur Geschichte des 20. Jahrhunderts als ein wichtiges Zeitdokument einordnen. Indem die Jury hiermit ein Hörbuch in der Auswahl der Nominierten berücksichtigt, plädiert sie außerdem indirekt für eine Aufweitung des über Jahrzehnte gewachsenen Textverständnisses des Preises. Sie erweitert den Kreis der Genres und Gattungen. Zum geschriebenen tritt nunmehr das gesprochene Wort hinzu. Zum einen in den Aufnahmen selbst, zum anderen in den mitgeschnittenen Gesprächen unter den Herausgeber:innen, womit das vielfältige Material in eine sinnstiftende Erzählung eingebettet wird.

Jahrhundertstimmen 1945– 2000. Deutsche Geschichte in über 400 Originalaufnahmen: Jahrhundertstimmen II Christiane Collorio, Ines Geipel, Ulrich Herbert, Michael Krüger, Hans Sarkowicz (Hrsg.) Hörverlag 2023, 50,99 €

Gewinner Preis der Leipziger Buchmesse 2024

Kategorie Belletristik
• Barbi Marković: Minihorror, Residenz Verlag

Kategorie Sachbuch/Essayistik
• Tom Holert: ca. 1972. Gewalt – Identität – Methode, Spector Books

Kategorie Übersetzung
• Ki-Hyang Lee, Bora Chung: Der Fluch des Hasen, CulturBooks

Preis der Leipziger Buchmesse zur Europäischen Verständigung
• Omri Boehm

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