Leipziger Buchmesse: Die Nominierten im Bereich Übersetzung

Literatur Seit 2005 werden auf der Leipziger Buchmesse große Stimmen der Gegenwartsliteratur ausgezeichnet. Neben Autor:innen aus Belletristik und Sachbuch/Essayistik, auch Übersetzer:innen
Ausgabe 09/2024
Leipziger Buchmesse: Die Nominierten im Bereich Übersetzung

Illustration: der Freitag

Sehr surreale Plots

Ein Tête-à-Tête zwischen einem Menschen und einem Roboter, eine geheimnisvolle Schwangerschaft, paradoxerweise ausgelöst durch eine Überdosis Antibabypillen, ein Unwesen aus Exkrementen, das aus der Toilette hervorkriecht – wovon Bora Chung in ihren Short Storys, versammelt in dem Band Der Fluch des Hasen, auch immer erzählt: Allem wohnt Schrecken und Wahnsinn inne. Das Unheimliche taucht genauso empor aus den Untiefen des kollektiven Unterbewusstseins wie aus den Abgründen der spätkapitalistischen Gesellschaft. Verwoben werden hierbei Traditionselemente unterschiedlicher Kulturräume, Strömungen und Genres. Science-Fiction-Trash und Horror-Splatter treffen auf magischen Realismus und europäische respektive asiatische Märchen. Diese Melange kann nur surreale Plots und Figuren erzeugen! Dass die albtraumhaften Szenerien auf beklemmende Weise plastisch vor unseren Augen entstehen, verdankt sich der Übersetzung aus dem Koreanischen durch Ki-Hyang Lee. 1967 geboren, studierte sie Germanistik in Seoul, Würzburg und München. Einem größeren Kreis wurde Ki-Hyang Lee durch die Übertragung des Romans Die Vegetarierin von Han Kang ins Deutsche bekannt.

Der Fluch des Hasen Bora Chung Ki-Hyang Lee (Übers.), CulturBooks Verlag 2023, 264 S., 24 €

Wo ist nur die Heimat hin?

Nach seinem Debüt Tschefuren raus! (2021) präsentiert uns Goran Vojnović seinen Helden Marko Đorđić in den Endzwanzigern. In dem Roman 18 Kilometer bis Ljubljana arbeitet er als Türsteher im Club „Džungla“ und kehrt aufgrund der Krebsoperation seines Vaters wieder an den Ort seiner Kindheit, Fužine, zurück. Die dortige Überraschung ist groß: Vom einstigen Arbeiterviertel sind kaum noch Spuren übrig. Genauso wenig wie von seinen früheren Bewohner:innen, die wegen der Gentrifizierung und der damit einhergehenden Steigerung der Mieten fortziehen mussten. Kann der Protagonist, der dort seine erste unglückliche Liebe zu einer Muslimin fand, wieder Fuß fassen? Übertragen aus dem Slowenischen ins Deutsche hat den Roman über ethnische Konflikte, Identitätssuche und Geschichtsverlust Klaus Detlef Olof. Er wurde 1939 in Oebisfelde geboren und arbeitet seit seinem Studium der Slawistik in Hamburg und Sarajevo als Übersetzer. Ferner lehrte er, der heute in Zagreb und Pula lebt, bis 2005 an verschiedenen Universitäten in Österreich. Für seine kenntnisreichen Übertragungen erhielt er 1991 den Österreichischen Staatspreis für literarische Übersetzer sowie 2004 das Lavrin-Diplom des Verbands slowenischer Literaturübersetzer.

18 Kilometer bis Ljubljana Goran Vojnović Klaus Detlef Olof (Übers.), Folio 2023, 319 S., 26 €

Frauenschicksale

Neben Olga Tokarczuk gilt Joanna Bator als eine der wichtigsten Stimmen der aktuelleren schlesischen Literatur. Und wie ihre Kollegin und Nobelpreisträgerin befasst auch sie sich ausgiebig mit Frauenschicksalen. Über mehrere Generationen von zum Unglück verurteilten Müttern reicht ihr Roman Bitternis. Und erst mit dessen Protagonistin Kalina Serce, dem jüngsten Spross der Familie, scheinen sich die Möglichkeiten von Freiheit und Selbstbestimmung zu eröffnen. Doch die Vergangenheit ruht nicht, wie sie feststellen muss, als sie in das Haus ihrer Kindheit zurückkehrt. Der scharfzüngige und mitunter an den sarkastischen Tonfall einer Elfriede Jelinek erinnernde Stil stellt für die Übertragung aus dem Polnischen ins Deutsche gewiss eine Herausforderung dar, die just mit einer Nominierung für den Preis für die beste Übersetzung belohnt wurde. Sie geht zurück auf die 1975 in Münster geborene Lisa Palmes. Nach ihrem Studium der Philosophie, Soziologie, Politikwissenschaft, Polonistik und Germanistischen Linguistik an verschiedenen Universitäten arbeitet sie heute als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für digitale Lexikographie der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften sowie als Übersetzerin, die 2019 den Sonderpreis des Riesengebirgspreises für Literatur erhielt.

Bitternis Joanna Bator Lisa Palmes (Übers.), Suhrkamp 2023, 829 S., 34 €

Das Leid beider Seiten

Der Krieg in den westlichen Medien ist zumeist anonym, eine alltägliche Geschichte über Zahlen, Waffenlieferungen und -arten. Das individuelle Leid tritt tragischerweise hinter der Abstraktion zurück. Anders verhält es sich in Katerina Gordeevas Reportageband Nimm meinen Schmerz. Geschichten aus dem Krieg. Sie, eine der wenigen unabhängigen russischen Journalistinnen, besuchte dafür Flüchtlingslager in Russland und der Ukraine, aber auch in Dresden und Warschau. Sie sammelte auf, was ihr zumeist Frauen erzählten. Über ihre gefallenen Männer und die zerstörte Heimat, über Lebensträume, die mit einem Mal zerplatzten wie eine Seifenblase. Der Krieg erhält dadurch nicht ein, sondern zahlreiche Gesichter. Übrigens aufseiten beider Konfliktparteien, wodurch es der Autorin gelingt, jenseits der konkreten Schuldfrage eine universelle Erzählung kriegerischer Zerstörung zu entwickeln. Dass wir an den Schicksalen der Opfer und ihrer Angehörigen teilhaben dürfen, geht auf die Übertragung aus dem Russischen ins Deutsche durch Jennie Seitz zurück. Sie wurde 1983 in Wladiwostok geboren, studierte in Berlin Indologie und Religionswissenschaft und ist seit 2013 als freie Übersetzerin tätig, unter anderem auch von Nadja Tolokonnikowa, die der international bekannten Aktivist:innengruppe Pussy Riot angehört.

Nimm meinen Schmerz. Geschichten aus dem Krieg Katerina Gordeeva Jennie Seitz (Übers.), Droemer Verlag 2023, 352 S., 24 €

Loving Underground

Er zählt neben Allen Ginsberg und Jack Kerouac zu den wichtigsten Stimmen der US-Beat-Generation: Lawrence Ferlinghetti. Antikapitalismus, der stete Bruch mit sämtlichen kulturellen und sozialen Konventionen sowie die Sehnsucht nach einem die eingefahrenenVerhältnisse sprengenden Underground-Revoluzzertum bestimmen seine Gedichte. Abgedruckt in dem Band Angefangen mit San Francisco, steht nun – neben bereits zwölf übersetzten Werken des 2021 im Alter von 102 Jahren verstorbenen Poeten – ein weiterer Teil von ihnen dem deutschsprachigen Publikum zur Verfügung. Nachdem der 1973 in Jena geborene Lyriker Ron Winkler, der zu den Trägern des Leonce-und-Lena-Preises, des Mondseer Lyrikpreises und des Lyrikpreises München zählt, bereits das Prosawerk Little Boy von ihm übersetzt hat, widmet er sich nun seiner Dichtung. Sie schließt Langgedichte wie politische Miniaturen gleichermaßen ein, spielt mit spätexpressionistischen Formexperimenten und Elementen des Freejazz. Auf inhaltlicher Ebene erweisen sich Liebe, Natur und Freiheit als zentrale Motive jener musikalischen Gedichte, die zwischen den Jahren 1958 und 1984 entstanden sind und bis in die Gegenwart nichts von ihrer avantgardistischen Kraft eingebüßt haben.

Angefangen mit San Francisco Lawrence Ferlinghetti Ron Winkler (Übers.), Schöffling Verlag 2023, 260 S., 28 €

Gewinner Preis der Leipziger Buchmesse 2024

Kategorie Belletristik
• Barbi Marković: Minihorror, Residenz Verlag

Kategorie Sachbuch/Essayistik
• Tom Holert: ca. 1972. Gewalt – Identität – Methode, Spector Books

Kategorie Übersetzung
• Ki-Hyang Lee, Bora Chung: Der Fluch des Hasen, CulturBooks

Preis der Leipziger Buchmesse zur Europäischen Verständigung
• Omri Boehm

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