Leipziger Buchmesse: Ein Stück Heimeligkeit

Literatur Skurriler Horror, viele Antihelden, tröstliches Erinnern an die Mutter: Björn Hayer über die diesjährigen Nominierungen
Ausgabe 09/2024
Björn Hayer über die nominierten Bücher der diesjährigen Leipziger Buchmesse: Lesen!
Björn Hayer über die nominierten Bücher der diesjährigen Leipziger Buchmesse: Lesen!

Foto: Imago/Seeliger

Elfriede Jelinek schrieb einmal, der Deutsche sei Prinz aus Prinzip. Was in diesem Kalauer mitschwingt, ist eine Grundbehaglichkeit. Ganz nach dem Motto: Wir sind wir und wir sind dort, wo’s gemütlich ist. Nun hat sich die Welt verändert. Vertikal droht der Klimawandel unsere Lebensbedingungen zu zerstören, horizontal versetzen uns Kriege in Schrecken. Dass von dem daraus resultierenden allgemeinen und diffusen Unbehagen auch die Literatur nicht unberührt bleibt, bringt zumindest ein Teil der Belletristik-Nominierten deutlich zum Ausdruck.

Und so ist der Titel von Barbi Markovićs quietschbuntem Prosaband Minihorror durchaus Programm. Es wuselt darin nur so vor seltsamen und blutrünstigen Bestien. So unverhofft sie aus dem Nichts auftauchen, so schnell verschwinden sie wieder. Fällt ihnen überdies einmal jemand zum Opfer, so tritt der Tod sodann nicht endgültig ein. Denn zu den Flüchen dieses Buchs gehört, dass seinen beiden Protagonisten mit den Blödelnamen Mini und Miki zwar allerlei üble Ereignisse, reichend von verdrehten Gelenken bis zu albtraumhaften Vervielfältigungen ihrer Physiognomie, widerfahren. Allerdings beginnt jede ihrer kleinen Lebensepisoden von Neuem. Sie ähneln Wiedergängern. In gewissem Sinne wie die Simpsons, die nie wirklich sterben, dafür aber ebenso wenig auf Erlösung hoffen dürfen.

Obschon dieser Band mit seiner avantgardistischen Mixtur aus Kurztexten und kleineren comicartigen Zeichnungen auf den ersten Blick zum Amüsement einlädt, täuscht jedoch nichts über die finstere Grundierung der Endlosgeschichte der Antihelden hinweg. Fassen lässt sie sich wohl am ehesten mit dem Terminus des Unheimlichen, wie ihn einst auch Sigmund Freud definierte. Es trägt schon seinen Widerpart in sich. Denn, so der Psychoanalytiker, „‚heimlich‘ ist ein Wort, das seine Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwickelt, bis es endlich mit seinem Gegensatz ‚unheimlich‘ zusammenfällt. Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich.“

Sich also nicht mehr sicher oder wohl in den eigenen vier Wänden zu fühlen, darin besteht Wirkung, die neben Marković noch eine zweite nominierte Autorin aufgreift, nämlich Anke Feuchtenberger. Merkwürdige Ereignisse tragen sich in ihrem Text Genossin Kuckuck, genauer: im Leben von Kerstin zu, die in einem ostdeutschen Provinznest aufwuchs und später die Marktliberalisierung im wiedervereinten Deutschland miterlebt. Mitunter begegnet man Hermaphroditen und Kannibalen, inmitten eines scheinbar normalen Alltags.

Bezieht man die beiden Werke nun auf unsere prekäre Gegenwart, so versinnbildlicht deren gemeinsames Bestiarium sämtliche mal abstrakteren, mal konkreteren Bedrohungen unseres heutigen Zusammenlebens. Seine Repräsentationen sind die furchterregenden Nachrichten, die Aufnahmen von Verletzten und Getöteten wie gleichsam alle Zeugnisse von sintflutartigen Überschwemmungen und Verwüstungen durch den Klimawandel.

Angesichts dieser mithin in Teilen komisch-grotesk verpackten Drastik fallen Inga Machels Auf den Gleisen und Wolf Haas’ Eigentum zunächst völlig aus der Matrix. Wie harmlos erscheinen sie gemessen an der Präsenz von unstillbaren Monstern. Dennoch sollte man auch sie durchaus als Reaktionen auf die sozialen Realitäten lesen. Denn beide Romane verhandeln Verlusterfahrungen. Im einen Fall geht es um den Abschied von der Mutter, im anderen um den verpassten vom Vater, der einst den Suizid wählte. Die Erinnerungen und Überblendungen der Protagonisten sorgen dafür, dass die Verstorbenen zumindest imaginär und für kurze Zeit wiederauferstehen.

Im Gegensatz zum Neohorror wird hier also der Versuch unternommen, ein Stück Heimeligkeit zurückzuerobern. Erzählen erweist sich dabei als grenzüberschreitende Praxis. Statt sich allein auf das Diesseits zu erstrecken, greift es in das Reich des Todes über. Dies geschieht hier gewiss in einem begrenzten und teils autobiografischen Setting. Nichtsdestotrotz färben sie ab auf all die Ticker über die Zahlen Gefallener und Ermordeter an den Fronten, all die umgekommenen Flüchtlinge.

Literatur, das ist klar, kann niemanden retten. Ganz bestimmt nicht. Sie kann uns aber das Bewusstsein vermitteln, dass niemand aus der vermeintlich anonymen Masse vergessen sein wird. Jedes Opfer zieht eine Gruppe sich Erinnernder (und vielleicht in einigen Fällen Schreibender, Archivierender) nach sich – immerhin ein kleiner Trost, den das Unheimliche glücklicherweise nicht vollends zu beseitigen weiß.

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