Leipziger Buchmesse: Die Nominierten im Bereich Belletristik

Literatur Nobilitiert wird eine vernachlässigte Textsorte – „Genosse Kuckuck“ ist ein Comic. Björn Hayer über die Belletristik-Bestenliste der Leipziger Buchmesse
Ausgabe 09/2024
Leipziger Buchmesse: Die Nominierten im Bereich Belletristik

Illustration: der Freitag

Hilfe, Schnecken

Geradezu beiläufig fällt der Blick auf ein Hakenkreuz in einer Schale, aus der Tiere gefüttert werden. Ganz so, als wäre es gar nicht von Bedeutung. Aber das ist es eben doch. Genauso wie Schnecken, die bei genauem Hinsehen wie übergroße Monster erscheinen, oder ein zunächst fremdes Tier, dessen Augen einem bei Nacht entgegenleuchten. Statt heimelig geht es in Genossin Kuckuck also ziemlich unheimlich zu, zumal sich kollektiv verdrängte Ängste immer mehr in den vordergründigen Plot schieben. Die 1963 in Ost-Berlin geborene Anke Feuchtenberger erzählt in dem Text vom Leben und den vielfältigen Beziehungen von Kerstin, wobei sich selbst in vertrauten Momenten, beispielsweise mit ihrer Freundin Effi oder ihren Eltern, ein begriffloses Unbehagen Raum bahnt. Was als Prosatext schon genug Schrecken birgt, potenziert seine Wirkung noch im Genre des Comics. Mit der Nominierung dieses Werks, entstanden aus der Feder der ersten deutschen Comic-Professorin an der HAW Hamburg, verleiht die Jury nicht nur dem allgemeinen gesellschaftlichen Schrecken angesichts der Allgegenwart von Krieg, Gewalt und Trauma Ausdruck. Vielmehr nobilitiert sie damit zugleich eine im Kanon bislang vernachlässigte Textsorte, der zu Unrecht über Jahrzehnte hinweg das Etikett der Schundliteratur anhaftete.

Genossin Kuckuck Anke Feuchtenberger Reprodukt 2023, 480 S., 44 €

Sparen, sparen, Häusle ...

Jene österreichische Klinik, in der Wolf Haas 1960 zur Welt kam, stellt am Ende seines autobiografischen Romans Eigentum paradoxerweise einen Ort des nahenden Todes dar. In dem inzwischen als Pflegeheim genutzten Komplex wartet seine Mutter auf das Ende, nachdem der Autor zuvor ihr Leben hat Revue passieren lässt. Sie selbst, geboren 1939, berichtet von ihrer Einberufung an die Kriegsfront und ihrem späteren Dienst für die amerikanischen Besatzer, mithin ihrer Auswanderung in die Schweiz, wo sie Geld verdiente, das sie umgehend ihren Eltern in Deutschland zum Bau eines Hauses schickte. Gewahr werden wir einer Vita voller Plagen und Labsal, mithin einer Rastlosen, die von dem kleinbürgerlichen Wunsch getrieben war, durch Sparen den ersehnten sozialen Aufstieg zu meistern. Hat sich Haas bereits mit einer Krimireihe und Ausflügen in diverse Genres, darunter auch die Coming-of-Age-Story, als vielseitiges literarisches Talent hervorgetan, legt er nun einen seiner persönlichsten Texte vor. Ein Roman über einen so liebevollen wie schwierigen Abschied. Er ist so wenig frei von Melancholie wie gleichsam zarter Komik. Zum titelgebenden Eigentum ist seine Mutter übrigens nicht gekommen. Lediglich ihr Grab, das der Sohn immer wieder aufsuchen wird, zeugt von ihren Spuren.

Eigentum Wolf Haas Carl Hanser Verlag 2023, 160 S., 22 €

Berlins hässlicher Flow

Wie im Fall von Haas’ Roman verhandelt ebenso das Debüt Auf den Gleisen der 1986 geborenen Inga Machel den Verlust eines Elternteils, nämlich des Vaters. Nachdem dieser vor zehn Jahren von einem Zug überfahren wurde, prägte zunächst Zorn Marios Blick in die Vergangenheit. Als der Ich-Erzähler auf P. trifft, glaubt er, in dem Drogenabhängigen und Hallodri unversehens den Suizidierten wiederzusehen. Inmitten der Verschiebung von Raum und Zeit sowie mitgerissen vom urbanen Flow in den Straßen Berlins fällt der Entschluss, den Verstorbenen, zu dem der Protagonist kein einfaches Verhältnis hatte, nicht noch ein zweites Mal verlieren zu wollen. Er verfolgt P. und wird indessen Teil einer fremden Existenz. Doch welchen Preis muss der Suchende für die erhoffte Nähe zahlen? Was nach Scheitern und keinem Happy End klingt, birgt doch einen erlösenden Ausgang. Nicht zuletzt weil das tief sitzende Trauma innerfamiliärer Gewalt im Laufe des Geschehens noch einmal durchlebt wird und dadurch bewältigbar erscheint. Der Weg dahin erweist sich als steinig, auch in stilistischer Hinsicht. Denn den Lesern und Leserinnen werden ebenfalls die Beschreibungen verschiedener Fäkalien zugemutet. Sie tragen dazu bei, dass dieses Seelenporträt an keiner Stelle ins Angenehme kippt.

Auf den Gleisen Inga Machel Rowohlt 2024, 160 S., 22 €

Abschied in Jerusalem

Vielen scheint Israel, zerrieben zwischen Krieg und Ideologien, heute ferner denn je. Umso wichtiger mutet es an, dass Literatur wieder jene Brücken erneuert, die in der ernüchternden Realität brüchig geworden sind. Dazu leistet der Entwicklungsroman Gewässer im Ziplock der 1996 in Berlin geborenen Dana Vowinckel einen nennenswerten Beitrag, indem hierin – subtil und bar jedweder politisch-moralischen Offensivität – gesellschaftliche Spannungen durch einen innerfamiliären Heilungsprozess überwunden werden. Worum geht es? Im Zentrum steht die fünfzehnjährige Margarita. Nachdem sie und ihr Vater früh von der Mutter verlassen wurden, reisen sie in einem Sommer nach Jerusalem, um sich mit Letzterer spät auszusprechen. Doch das Projekt misslingt. Erst beim gemeinsamen Abschied von der im Sterben liegenden Großmutter in Chicago wird eine Aussöhnung denkbar. Welche Herausforderung die Identitätssuche zwischen Pubertät, religiöser Herkunft und Familienzwisten mit sich bringt, vermittelt der Text insbesondere durch seine vielzimmrige Erzählkonstruktion. Changierend zwischen den Perspektiven der Hauptfigur und jener ihres Vaters, verweigert er konsequent einen festen Standpunkt. Die Erfahrung des Fremden bleibt so als Konstante der menschlichen Existenz bestehen.

Gewässer im Ziplock Dana Vowinckel Suhrkamp 2023, 362 S., 23 €

Auch mit echtem Pech

Das Unheimliche bewohnt längst nicht mehr nur unsere Träume. Es lauert mitten in der Alltagswirklichkeit. Gewiss nur sehr selten in echten Bestien wie jener, die unter Mädchenhaaren eine blutrünstige Ungestalt zu erkennen gibt. Oder etwa in jenem schrägen „Kitzelmonster“, das immer dann in Erscheinung tritt, wenn sich die Gesellschaft zu entsolidarisieren droht. Derartige Biester lassen sich in Barbi Markovićs schrillem Prosaband Minihorror zuhauf finden. Zwischen ihnen bewegen sich Mini und Miki. Überall droht ihnen das Unglück. Allen voran im letzten Teil des Werks scheitern sie aus Prinzip. In Zwei- bis Fünfzeilern und versehen mit kleinen comicartigen Zeichnungen stülpen sich mitunter ihre Knie um oder verlieren sie schlagartig an Intelligenz. Ferner werden sie auch einmal zu DJs in einer Gemeinschaft, die allerdings keine Lust mehr zum Tanzen hat. „Es gibt Tage, an denen nichts einfach von der Hand geht (…). Beim Anziehen fällt ein schweres Buch aus dem Regal und landet spitz auf seinem Fuß. Auf dem Weg zur Arbeit rutscht er auf der Treppe aus, erschreckt sich. Ein kleiner Hund bellt ihn an der Ecke Thaliastraße an und verbeißt sich in seine Hose.“ Fehlt nur noch der Joke mit der Bananenschale in diesem bösen Buch, das surreales und reales Pech zusammenbringt.

Minihorror Barbi Marković Residenz Verlag 2023, 192 S., 24 €

Gewinner Preis der Leipziger Buchmesse 2024

Kategorie Belletristik
• Barbi Marković: Minihorror, Residenz Verlag

Kategorie Sachbuch/Essayistik
• Tom Holert: ca. 1972. Gewalt – Identität – Methode, Spector Books

Kategorie Übersetzung
• Ki-Hyang Lee, Bora Chung: Der Fluch des Hasen, CulturBooks

Preis der Leipziger Buchmesse zur Europäischen Verständigung
• Omri Boehm

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