Leipziger Buchmesse: Brüllen, reden, lesen – oder: bunt gewinnt

Literatur Zum Auftakt der 20. Leipziger Buchmesse gab es nicht nur warme Worte, sondern auch Tumult um Bundeskanzler Olaf Scholz. Bei den Literaturpreisen räumen drei unabhängige Verlage ab
Die Leipziger Buchmesse will mit der Kampagne #DemokratieWählenJetzt ein Zeichen setzen
Die Leipziger Buchmesse will mit der Kampagne #DemokratieWählenJetzt ein Zeichen setzen

Foto: Hendrik Schmidt/picture alliance/dpa

Der Eröffnungsabend der Leipziger Buchmesse galt dem Philosophen Omri Boehm, der am Donnerstag im Gewandhaus den Preis der Leipziger Buchmesse zur Europäischen Verständigung erhielt. Doch bevor der in New York lebende israelisch-deutsche Hochschullehrer überhaupt zu Wort kam, verschafften sich einige Aktivist:innen lautstark Gehör.

Schon bei der Ankunft von Bundeskanzler Olaf Scholz protestierten Aktivisten lautstark gegen den Gaza-Krieg, Scholz’ Eröffnungsrede wurde mehrmals von schwer verständlichen Zwischenrufen aus dem Publikum unterbrochen. Medienberichten zufolge warfen die Störer der israelischen Regierung einen Genozid im Gazastreifen vor. Sichtlich aus der Contenance gebracht konterte Scholz irgendwann die Rufe mit der Aussage, dass man hier nicht zum Brüllen, sondern zum Reden sei.

Im Namen der jüdisch-palästinensischen Freundschaft

Austausch und freie Rede stehen im Mittelpunkt des Branchentreffens, bei dem der Zustand der Demokratie eine wichtige Rolle spielt. Die Messe möchte ein Ort der Vielfalt sein, gemeinsam mit dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels hatte man die Kampagne #DemokratieWählenJetzt aufgesetzt. Das Publikum im Gewandhaus war gebeten, das Motiv in die Höhe zu halten.

Das Bild von der Aktion ging wie geplant viral, die demonstrative Einnahme der Kultur durch die Politik gefällt jedoch nicht allen. „Literatur leistet einen wichtigen und wertvollen Beitrag für die Demokratie – sie braucht jedoch auch Demokratie als Grundlage, um sich überhaupt frei entfalten zu können“, betonte Astrid Böhmisch, die neue Direktorin der Leipziger Buchmesse zur Kampagne. In Sachsen wird im Herbst gewählt, wo die AfD trotz Beobachtung vom Verfassungsschutz hohe Umfragewerte verzeichnet.

Aber zurück zu Omri Boehm, dem der Abend ja eigentlich galt. Die israelische Soziologin Eva Illouz hielt die Laudatio auf ihren Landsmann und dessen ausgezeichnetes Buch Radikaler Universalismus, in dem die dunklen Seiten der Identitätspolitik aufdeckt. Illouz machte in ihrer Rede deutlich, dass sich Identität aus individuellen Erfahrungen heraus bildet und die sich daraus ergebenden Interessen nicht auf andere Menschen oder Gruppen übertragbar seien. Eine Identifikation mit den identitären Interessen anderer sei daher geradezu unmöglich, so Illouz.

Boehm blieb in seiner Dankesrede seinem Ansatz eines humanistischen Universalismus treu und sprach über den Nahostkonflikt und die deutsch-jüdische Freundschaft. „Wo sie besteht, ist sie ein wahres Wunder, aber dieses Wunder muss jetzt vor Entwertung geschützt werden“, sagte Boehm auch in Richtung des Bundeskanzlers. „Es kann keine deutsch-jüdische Freundschaft geben, wenn sie in diesen dunklen Zeiten keinen Platz für die schwierigen Wahrheiten hat, die im Namen der jüdisch-palästinensischen Freundschaft gesagt werden müssen.“ Harte Wahrheiten dürften nicht geopfert, sondern müssten in den Vordergrund gestellt werden, wenn man diese Freundschaft ernst nimmt, so Boehm, dessen Rede noch am Tag Thema in den Messehallen ist.

Buchbranche im anhaltenden Krisenmodus

Diese sind am ersten Messetag noch überraschend leer. Das Gedränge vergangener Tage ließ am Donnerstag noch auf sich warten. Das passt zur gedrückten Stimmung, die über der Jubiläumsmesse liegt. Die Branche trifft sich im anhaltenden Krisenmodus, in diesen Zeiten einen unabhängigen Verlag zu betreiben sei kaufmännisch betrachtet kein Spaß, erklärte Kanon-Verleger Gunnar Cynybulk kürzlich im Deutschlandfunk.

Die Kurt Wolff Stiftung erklärte als Interessenvertretung der unabhängigen Verlage vor Öffnung der Messetore, dass die Vielfalt in der Buchbranche gefährdet ist. Indieverlage wie Faber & Faber sind unter dem hohen Kostendruck bereits in die Knie gegangen, andere halten sich nur Dank der Prämie, die mit dem Deutschen Verlagspreis einhergeht. Längst seien alle in der Branche von den sich beschleunigenden negativen Entwicklungen – den Preissteigerungen, der voranschreitenden Inflation, den Konzentrationsprozessen und dem Druck des Großhandels – betroffen. Kleinere, bibliodiverse Verlagsprogramme verschwänden aus dem Großhandel, inhabergeführte Buchhandlungen gerieten unter Druck, so die Stiftung in ihrer Erklärung, in der sie einmal mehr eine strukturelle Verlagsförderung forderte, um die vielfältige Verlagslandschaft zu sichern. In der Pressemitteilung von Kulturministerin Claudia Roth zum diesjährigen Branchentreffen war davon nichts zu lesen.

Welche Bedeutung die Indieverlage in der Buchbranche haben, wurde einmal mehr bei der Verleihung der drei Preise der Leipziger Buchmesse deutlich. Die Jury, die letztmalig unter dem Vorsitz von Insa Wilke tagte, hat von den eingereichten 486 Büchern drei Titel von unabhängigen Verlagen ausgewählt, um sie in den Kategorien Übersetzung, Sachbuch/Essayistik und Belletristik auszuzeichnen. Orientiert man sich am Cover der Siegertitel, dann gilt das Motto „Bunt gewinnt“. Blickt man auf den Inhalt, scheint die Jury in diesem Jahr vom Absurden und Gruseligen fasziniert gewesen zu sein.

Juryvorsitzende Insa Wilke: „Wir sind hier an einem Ort des Sprechens“

Dies gilt auch für Barbi Markovics 26 erzählerische Miniaturen, die unter dem Titel Minihorror erschienen sind. Rasant, seriell und pop-affin enttarne Marković in ihrem Buch das Unheimliche jeder noch so harmlosen Situation, der Mensch im Spätkapitalismus werde dabei notgedrungen zur Witzfigur. „Hinten die Kriegsverbrechen, vorne der Klimawandel, dazwischen die Banalität unseres tagtäglichen Lebens“, lobte die Jury. Der titelgebende Minihorror schlägt in den Alltagsszenen von Mini und Miki die großen Tragödien, die ohnehin immer im Kleinen mitschwingen. Diese stilsicher stilbrechende Prosa ist von einer eindrucksvollen Souveränität, die die in Belgrad geborene und in Wien lebende Autorin auch auf der Bühne bewies.

Ihre Dankesrede klang wie ein nachgereichtes Kapitel aus ihrem ebenso unterhaltsamen wie abgrundtiefen Buch. Mini muss da die Dankesrede zur Preisverleihung halten, scheitert aber gnadenlos und sitzt am Ende heulend hinter der Bühne. „Mini wird aus der Literatur herausgeworfen“, heißt es da. Wer Markovics Buch gelesen hat und die Mechanismen der Branche kennt, weiß aber, dass Mini mit ihrem Counterpart Miki jetzt erst richtig durchstarten wird.

Durchzustarten wünscht man auch dem Buch des Berliner Historikers Tom Holert, das den Sachbuchpreis der Messe erhielt. In seinem überbordenden Text-Bild-Essay ca. 1972. Gewalt – Umwelt – Identität – Methode dekliniert er den Begriff der Radikalität durch und nimmt die Widersprüche in den Blick, die radikale Haltungen global hervorgerufen. „Indem er seine Position als Autor benennt, reflektiert und sie sichtbar macht, ohne sich selbst in diese kulturellen Objekte und ihre Geschichte einzuschreiben, leistet er seinen klugen Teil der Arbeit auf dem Weg zu einem 2024 leider immer noch utopischen Ziel: einer sozialen, globalen, ökologisch und geschlechtlich gerechteren Welt“, heißt es in der Begründung der Jury. Dieser zugewandte Blick auf das neugierige Suchen und absurde Irren der politischen Bewegungen kann uns heute nur helfen.

Der Übersetzungspreis der Leipziger Buchmesse ging an Ki-Hyang Lee, die Bora Chungs Erzählungsband Der Fluch des Hasen aus dem Koreanischen übertragen hat. Das Unheimliche und Monströse laufe in den zehn Geschichten zu großer Form auf, so die Jury. Im Mittelpunkt stehen meist koreanische Frauen, die sich in den patriarchalischen Verhältnissen ihrer Zeit behaupten müssen. Der weibliche Körper wird hier zum Schlachtfeld der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, der Geist zum Fluchtpunkt in der Dunkelheit, der es zu entkommen gilt. „In der pointierten und leicht neben die Norm gesetzten Sprache, die Ki-Hyang Lee den Texten von Bora Chung verleiht, haben die Geschichten eine zitternde Offenheit für das Neue und Unerwartete“, so die Jurybegründung.

Vor der Preisverleihung nahm die Juryvorsitzende Insa Wilke Stellung zum Vorwurf des Schweigens der Kulturszene angesichts des Horrors im Nahen Osten. In ihrer Rede erinnerte sie an die immer noch entführten jüdischen Geiseln, aber auch an das Leid der Menschen in Gaza. Dabei fand sie einen nachdenklichen Ton, der gut zu Omri Boehms Universalismus passte. Sie machte deutlich, dass Schweigen nicht mit Gleichgültigkeit verwechselt werden dürfe. Worte könnten auch verletzen, leere Worte seien respektlos, erinnerte sie. Zugleich räumte sie ein: „Wir haben uns hier mehrheitlich verfehlt in einer Situation, in der wir mehr füreinander hätten da sein müssen.“ Es sei nun Zeit, das Verfehlen abzuarbeiten. „Wir sind hier an einem Ort des Sprechens“, erinnerte sie, es müsse eine Sprache für das Unsagbare gefunden werden, so ihr Appell.

Oliver Zille äußert sich erstmals zu seinem Rücktritt als Direktor der Leipziger Buchmesse

Im Namen der Jury bedankte sich Wilke auch noch einmal bei Oliver Zille, der aus der Leipziger Buchmesse mehr als einem Marktplatz gemacht habe. Zille hatte sich im vergangenen Jahr überraschend zurückgezogen, in diesem Jahr findet die Messe erstmals unter der Leitung von Astrid Böhmisch statt.

In der Zeit sprach Zille nun erstmals über sein Ende bei der Leipziger Buchmesse und auch hier scheinen ähnliche Gründe vorzuliegen wie die, die die Kurt Wolff Stiftung für die Unabhängigen Verlage beklagt. Zille zufolge gäbe es bereits seit einigen Jahren Dissens über die Frage, wie man die Leipziger Buchmesse als gesellschaftspolitisches Großereignis weiterentwickeln könne. „Wirtschaftlich zu arbeiten, ist zwingend. Ganz klar und bisher für die Buchmesse auch kein Problem. Aber Renditedruck und Prozessstandardisierungen dürfen die Entwicklung der Messe nicht behindern“, erklärt Zolle auf Zeit Online. Über die Rahmenbedingungen – „strukturell, personell, organisatorisch und auch bezüglich der Verfügungsgewalt über die erwirtschafteten Finanzen“ – gab es keine Einigung mehr, so Zille, der „erschöpft vom ständigen Kämpfen“ gewesen sei.

Ob und wie Astrid Böhmisch diese Fragen lösen kann, wird die Branche mit Argusaugen beobachten. Böhmisch, die Erfahrungen in der Film- und Buchbranche gesammelt hat, sagte im Deutschlandfunk, dass sie in Literatur Trost und Zuversicht finde. Es ist ihr zu wünschen, dass in ihrer Tätigkeit die Zuversicht überwiegt.

Gewinner Preis der Leipziger Buchmesse 2024

Kategorie Belletristik
• Barbi Marković: Minihorror, Residenz Verlag

Kategorie Sachbuch/Essayistik
• Tom Holert: ca. 1972. Gewalt – Identität – Methode, Spector Books

Kategorie Übersetzung
• Ki-Hyang Lee, Bora Chung: Der Fluch des Hasen, CulturBooks

Preis der Leipziger Buchmesse zur Europäischen Verständigung
• Omri Boehm

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