Im Angesicht des globalen Verbrechens

Weltwirtschaft Massimo Carlottos dichter Roman „Die Marseille Connection“ spielt in der ganz normalen Grauzone zwischen Legalität und Kriminalität
Ausgabe 47/2013

Es gibt neben der ganz realen Bandenkriminalität zwei große, brutale Erzählungen, die das Bild von Marseille geprägt haben. Zum einen sind das die French-Connection-Filme von John Frankenheimer mit Gene Hackmann als New Yorker Drogencop Jimmy Doyle, der in Marseille den Chef eines Drogenkartells jagt. Die andere ist Die Marseille Trilogie von Jean-Claude Izzo rund um den Polizisten, dann Ex-Polizisten Fabio Mortale, der gegen die Mafia, Islamisten und Rechtsradikale ermittelt. Wenn sich jetzt also ein Krimi Die Marseille Connection nennt, dann klingt das, als wolle man gleich in beide Fußstapfen treten.

Mit Massimo Carlottos Roman landet man erst einmal in den Wäldern von Tschernobyl, vor der somalischen Küste, im indischen Abwrack-Hafen Alang, in Ciduad del Este und in London. Bis man nach 50 Seiten mit einem Paraguayer, der den Darm voller Koks-Beutel hat, endlich in Marseille landet, sind ein Rudel Wölfe erschossen, ein Wachmann von einer Granate zerfetzt und ein russisches Kartell beseitigt worden. Einer schwedischen Reporterin sind das Gesicht zertrümmert und die Organe entnommen worden, ein chinesischer Wäscher ist mit Stühlen totgeprügelt und der Chef der Triaden von Ciudad del Este in einem Aufzug abgeknallt worden.

Man muss kein Sherlock sein, um zu kombinieren, dass die Drogen nur ein Nebenschauplatz sind. Der Mann mit dem Kokain im Darm hat noch gelernt, wie man einem Folteropfer bei lebendigem Leib die Haut vom Körper abzieht, aber die echten Sauereien machen in Carlottos Roman Twentysomethings, Träger filigraner Brillen, die Wirtschaftswissenschaften in Leeds studiert haben. „Eine kleine Bande von Kindern aus gutem Haus“, nennt sie der Autor.

B. B. ist hässlich wie die Nacht

Vier Kosmopoliten, die zu wohlerzogen für die Verbrechen wirken, die sie betreiben, zumal bei einer Frauenquote von 25 Prozent im Führungsgremium. Ist das versteckter Sexismus, dass ausgerechnet die Frau im Team, eine Schweizerin, für die Geldwäsche zuständig ist? Auf der Gegenseite die Kommissarin Bernadette Bourdet, kurz B. B. genannt, was in die Irre führt: Kommissarin B. B. ist hässlich wie die Nacht und benimmt sich nicht besser als ein Macho alter Schule. Prostituierte schützt sie im Gegenzug für Sex. „Mach hin, ich will vögeln“, mault sie schon mal, wenn ihr die Ausführungen ihrer V-Frau aus dem Milieu zu lange dauern. Bernadette Bourdet ist hochgradig korrupt, aber nicht korrumpierbar. Vom regulären Dienst ist sie deshalb längst suspendiert – das hat sie mit Jean-Claude Izzos Polizisten gemeinsam –, aber gut, so gehört es sich nun mal.

Schauen wir also auf die Unterschiede. Jean-Claude Izzo, der Autor der Marseille Trilogie, ist hier geboren und gestorben. Sein Ermittler kennt die Dreckswinkel und die Postkartenansichten, weshalb man das Buch jedem Marseille-Reisenden mit auf den Weg geben muss. John Frankenheimer, der US-Regisseur, lässt seinen Ermittler Doyle als peinlichen Fremden herumtappen, der noch nicht einmal einen Whiskey ohne Eis, geschweige denn eine Französin kriegt. Beinahe verreckt er in French Connection II selbst als Junkie auf der Straße.

Und wie sieht es nun bei Massimo Carlotto aus, dem Italiener, der vor seiner Karriere als Krimiautor zu Unrecht des Mordes verurteilt wurde, woraufhin er mehrere Jahre ins Ausland, nach Paris und Mexiko, floh? „Was soll ich denn in Marseille?“, fragt in seinem Roman Sosim, der smarte Russe aus der BWLer-Gang. Keine Antwort. „Aber das ist Europa! Was soll ich dort?“, fragt Garrincha, der Paraguayer. Keine Antwort. Es sind Zufälle, die Marseille in diesem Roman zum Drehkreuz für den russischen FSB, transnistrische Terroristen und Wirtschaftskriminelle machen.

In Carlottos Roman ist von Marseille inmitten des globalisierten Verbrechens nur noch die Kommissarin Bernadette Bourdet übrig, die in ihrem alten Peugeot sitzt und Schnulzen von Johnny Hallyday hört. Schön ist sie nicht. Aber eine Nummer für sich.

Die Marseille Connection
Massimo Carlotto Hinrich Schmidt-Henkel (Übers.), Tropen bei Klett-Cotta 2013, 239 S., 18,95 €

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Geschrieben von

Christine Käppeler

Ressortleiterin „Kultur“

Christine Käppeler leitet seit 2018 das Kulturressort des „Freitag“, davor schrieb sie als Redakteurin vor allem über Kunst und die damit verbundenen ästhetischen und politischen Debatten. Sie hat Germanistik, Amerikanistik, Theaterwissenschaften und Journalismus in Mainz und Hamburg studiert und nebenbei als Autorin für „Spex. Das Magazin für Popkultur“ gearbeitet.

Christine Käppeler

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