„Armut" von Matthew Desmond oder: Wir alle sind in die Ausbeutung verstrickt

USA Armut existiert nur, weil die Gesellschaft von ihr profitiert, schreibt der Pulitzer-Preisträger und Soziologe Matthew Desmond. Warum sein Buch auch uns angeht
Ausgabe 17/2024
Armut zwingt Menschen, sich täglich mit neuen Krisen auseinanderzusetzen
Armut zwingt Menschen, sich täglich mit neuen Krisen auseinanderzusetzen

Foto: MoaKarlberg/Kontinent/laif

Wenn du auf dem Heimweg von der Arbeit einen Obdachlosen siehst, an der Supermarktkasse hinter einer Mutter wartest, die Coupons zählt, oder deine Burger und Pommes von einer Frau serviert bekommst, die längst in Rente sein müsste, dann frage dich: „Wem nutzt das? Nicht: Warum suchst du dir keine bessere Arbeit?“ Dazu fordert uns Matthew Desmond in seinem neuen Buch Armut – eine amerikanische Katastrophe auf.

Armut erscheint zu vielen als persönlicher Makel, als Ergebnis einer Kette von Fehlentscheidungen oder Pech: Hätte sie bloß nicht so früh Kinder bekommen! Hätte er nur etwas Anständiges gelernt! Zu viele verleugnen Armut: Aber die haben doch Waschmaschinen, Fernseher, Handys! Doch diese Geräte sind heute dank technischem Fortschritt billig zu haben, während Grundbedürfnisse wie Wohnen und Gesundheit unbezahlbar wurden. Zu wenige begreifen Armut als Folge von sozialer Ungerechtigkeit: Die Armen sind arm, weil ihnen zu niedrige Löhne gezahlt werden.

Nicht Armut in Amerika, sondern: Armut, erzeugt durch Amerika

Matthew Desmond, der selbst aus ärmlichen Verhältnissen stammt und es sich als Soziologe zur Lebensaufgabe gemacht hat, gegen die Armut anzuschreiben, geht indes noch weiter: Er versteht Armut als Ausbeutung. Reichtum existiert nicht ohne Armut. Sie ist elementarer Bestandteil des Systems, da große Teile der Gesellschaft direkt von ihr profitieren. Der deutsche Titel macht dies leider unkenntlich. Desmond legt im englischen Original Wert auf den Wirkungszusammenhang Poverty, by America. Nicht: Armut in Amerika, sondern: Armut, erzeugt durch Amerika. In der Kritik stehen dabei nicht nur die üblichen Verdächtigen: Multimilliardäre, Banker:innen, Politiker, sondern alle bis weit in die „Mittelschicht“ hinein. Auch als deutsche Leserin fühlt man sich ertappt: Deine Bank erhebt keine Kontoführungsgebühr? Dein Konto wird von den ärmsten Kunden in Form von horrenden Überziehungsgebühren finanziert.

Desmonds Buch ist jedoch kein plattes „Check your privilege“. Es geht um mehr als das bloße Gefühl des Zurechtgewiesenwerdens, das beim Gespräch über Privilegien oft zurückbleibt. Seine Analyse zeigt empiriegesättigt die Verstrickung nahezu aller Amerikaner in die Ausbeutung auf: „Per Handy bestellen wir Taxis, Lebensmittel, Pizza oder Handwerker, alles zu Kampfpreisen. Wir sind die Herren dieser neuen Bedienstetenwirtschaft mit ihren anonymen und unterbezahlten Knechten, die rund um die Uhr für uns bereitstehen.“

Wer Desmonds mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnetes Debüt Zwangsgeräumt (Ullstein 2018) gelesen hat, schätzt das Literarische seiner Soziologie: Sein Schreibstil versetzt in die untersten Segmente der Gesellschaft, hinein in Trailerparks, zu Familien mit zahlreichen Kindern, von denen schon die jüngsten mehrere Zwangsräumungen hinter sich haben, zu Rentnern, die Winter für Winter ohne Heizung leben. Auch Armut ist gespickt mit Porträts von Menschen, deren Leben schon von Geburt an von erdrückender Gewalt gekennzeichnet ist, von Missbrauch, Heimatlosigkeit im Pflegekindsystem, gefolgt von psychischen Störungen und existenzieller Armut.

Die Kreditrate für das Eigenheim steuerlich absetzen

Der Einzelfall macht das Kollektivschicksal sichtbar. Armut führt zu einem Mangel an Chancen, stellt dich immer wieder vor ausschließlich schlechte Optionen, treibt dich immer tiefer in die Not hinein: elendig lange Wartelisten für immer weniger Sozialwohnungen, hohe Mieten für heruntergekommenen Wohnraum auf dem privaten Wohnungsmarkt, die erste Zwangsräumung, die ins Vorstrafenregister eingeht, weshalb weitere Sozialleistungen gestrichen werden. Zuletzt lebt eine der Protagonistinnen auf der Straße und von Essensmarken und Prostitution.

Desmond folgert: „Armut ist ein vermindertes Leben. Sie bestimmt das Denken und hindert Menschen daran, ihr Potenzial zu verwirklichen. Sie (…) zwingt sie, sich mit der jeweils anstehenden Krise auseinanderzusetzen.“ Und: „Armut ist Schmerz, körperlicher Schmerz.“ Mehr noch: Armut ist „eine Verletzung, die einem zugefügt wird“.

Desmond kehrt über seine Recherchen zu seinen Wurzeln zurück. Wie einst Günter Wallraff für Ganz unten (1985) oder Barbara Ehrenreich für Arbeit poor: Unterwegs in der Dienstleistungsgesellschaft (2001) lebte er für Zwangsgeräumt selbst in Trailerparks und verbrachte für Armut Wochen mit Menschen, die zwei Vollzeitjobs ausüben, um die Miete für ein Zimmer berappen zu können. Er trifft Jugendliche, die 16 Stunden arbeiten, um zu überleben, und deren jüngere Geschwister sagen: „Ich will mir eine von deinen Stunden kaufen. Wie viel kostet es, wenn du eine Stunde mit mir spielst?“ Der Autor fügt sich scheinbar ein in die neue Klassenliteratur: Der Sozialaufsteiger – Desmond lehrt in Harvard –, der seine Klasse nicht, wie einst Didier Eribon, verleugnet, sondern sichtbar macht. Man denkt unweigerlich an Pierre Bourdieu. Doch während dessen Werk die symbolische Macht und den Klassismus analysiert, mit denen die oberen Klassen die unteren raushalten, erscheint Klasse bei Desmond vor allem als Ausbeutungsverhältnis, das in wirtschaftliche, staatliche und gesellschaftliche Strukturen eingeschrieben ist.

Der Autor erinnert daran, dass John Stuart Mill, den er als Vorkämpfer der „Freiheit“ und der „freien“ Märkte kennzeichnet, einmal erklärte, wenn verbreiteter Mangel ein Kennzeichen des Kapitalismus wäre, würde er Kommunist werden. Desmond betont jedoch: Seine Vorschläge, wie Armut zu überwinden sei, würden sich nicht gegen den Kapitalismus per se richten, sondern gegen Ausbeutung und Ungleichheit. „Sie sind Rufe nach einem Kapitalismus, der den Menschen dient, und nicht umgekehrt.“

Die USA verfügen über den zweitgrößten Sozialetat der Welt

Tatsächlich scheinen für Desmond sämtliche seiner Vorschläge innerhalb der bestehenden Wirtschafts- und Eigentumsordnung umsetzbar zu sein. Besonders plakativ: Um alle Einkommen unterhalb der Armutsgrenze wenigstens bis zu ihr anzuheben, bräuchte es 177 Milliarden US-Dollar. Fast dieselbe Summe stünde dem Staat zur Verfügung, würde er einfach nur jene Steuern beim reichsten einen Prozent der Bevölkerung eintreiben, die ihm schon nach geltender Gesetzeslage zustehen. Und dies unter Bedingungen, unter denen Milliardäre, wie Emmanuel Saez und Gabriel Zucman in Der Triumph der Ungerechtigkeit (Suhrkamp 2020) dokumentierten, einen niedrigeren Steuersatz bezahlen als normale Arbeiter.

Doch der Sozialstaat hat in den USA keinen guten Ruf. „Erstens glauben Amerikaner (fälschlich), dass die meisten Sozialhilfeempfänger schwarz sind. Und zweitens glauben viele bis heute, dass es Schwarzen an Arbeitsmoral fehlt. (…) Dieser Rassismus schürt die Stimmung gegen Sozialhilfe.“ Vom klassisch-sozialdemokratischen Begriff der Umverteilung distanziert sich Desmond aber nicht deshalb, sondern weil er irreführend sei. Er lasse sozialen Fortschritt als ein „Nehmen“ erscheinen, so als sei der Staat ein gefräßiges Monster, das den Wohlhabenden immer tiefer in die Taschen greife. Vom Staat profitierten heute, so Desmonds bestechende Argumentation, aber nicht die Armen, sondern die Reichen. Eigenheimbesitzer, die ihre Kreditrate steuerlich absetzen, nähmen sich zwar nicht als Sozialhilfeempfänger wahr, profitierten jedoch unvergleichlich mehr als die Armen, die Lebensmittelmarken beziehen. Und wer sind im Fall von Lohnsubventionen eigentlich die Sozialhilfeempfänger: die „Aufstocker“ oder Großkonzerne wie Walmart, der größte Arbeitgeber in den USA, die ihnen systematisch beim Ausfüllen der Anträge helfen und sich dadurch Lohnkosten sparen, um ihren Kapitalanlegern die Profite vom Staat vergolden zu lassen?

Zähle man alle steuerlichen Freibeträge, Zusatzleistungen und Subventionen zusammen, verfügten die USA nach Frankreich über den zweitgrößten Sozialetat der Welt. Doch: „Die größten Summen werden nicht darauf verwendet, Arme aus der Armut zu führen, sondern darauf, Reichen den Reichtum zu sichern. Damit bleiben weniger Mittel für die Armen. Wenn das unser Ziel und unser Gesellschaftsvertrag ist, dann sollten wir das auch so sagen (…). Aber wir können den Armen nicht ins Gesicht sehen und sagen: Wir würden euch ja gern helfen, aber wir können es uns halt nicht leisten. Das ist nämlich eine Lüge.“

Armut. Eine amerikanische Katastrophe Matthew Desmond Jürgen Neubauer (Übers.), Rowohlt 2024, 304 S., 20 € Leseprobe

Judith Solty ist Politikwissenschaftlerin und lebt in Berlin

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