Mehr Föderalismus weltweit. Das ist das Gebot der Stunde – wenn man inner- und zwischenstaatlich Frieden schaffen und dann auch langfristig erhalten will. Nicht nur im russisch-ukrainischen Kriegsraum. Die postkolonialen staatlichen Konstruktionen provozieren geradezu Aggressionen wie nun diejenige des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Man übersehe dabei nicht seinen politischen Bruder Recep Tayyip Erdoğan, den Präsidenten der Türkei. Ebenfalls seit Jahren besetzt er fremde Gebiete und hat diese faktisch annektiert: kurdische Gebiete Syriens und des Irak. Was Putin mit der Ukraine versucht, hat China um 1800 in Xinjiang und seit 1959 in Tibet „erfolgreich“ abgeschlossen. Längst ist Xinjiang völker-„rechtlich“ als Teil Chinas anerkannt, der Status von Tibet ist „umstritten“. Und das bedeutet: Die völker-„rechtliche“ Anerkennung ist nur eine Frage der Zeit. Ähnliches muss bezüglich der Krim und der Ostukraine befürchtet werden: Kommt Zeit, kommt die Anerkennung als Teile Russlands. Frieden? Fehlanzeige.
Als „ethnisch“, als sprachlich und kulturell russisch, jedoch keinesfalls als ukrainisch betrachtet sich seit jeher die Bevölkerungsmehrheit sowohl auf der Krim als auch in der Ostukraine. Hier wollen die Menschen „heim ins Reich“ Russlands. Staatliche Strukturen, welche die Mehrschichtigkeit einer Bevölkerung nicht durch Institutionen auffangen und eben re-präsentieren, sprich: gegenwärtig setzen, zerfallen irgendwann. Und solche Situationen sind dann geeignet, Aggressionen von außen zu ermutigen. Zwei höchste Güter prallen hier aufeinander: Selbstbestimmungsrecht und Völkerrecht. Die staatlichen Grenzen (Völkerrecht), in diesem Falle der Ukraine, verhindern bisher die Selbstbestimmung der Russen in der Ukraine. Wie Adolf Hitler 1938 lässt sich Putin daher gerne von seinen Landsleuten im Ausland als „Befreier“ bitten. Seine Aggression ist eine dauerhafte Provokation für die Ukrainer. Sie werden die irgendwann doch siegreichen russischen Besatzer durch einen Guerillakrieg plus Gewalt im russischen Kernland zermürben. Zu Recht. Aber Frieden?
Die Lösung: Mehr Selbstbestimmung
Wolodymyr Selenskyj, der Präsident der Ukraine, hat das Dilemma erkannt und die Lösung benannt: mehr Selbstbestimmung für die Bewohner von Krim und Ostukraine. Im Klartext: föderative Strukturen mit mindestens drei Bundesländern, Kern-Ukraine, Ostukraine, Krim. Eine „Bundesrepublik Ukraine“. Die staatlichen Institutionen würden die Mehrschichtigkeit der Staatsbürger repräsentieren. Beide Seiten würden ihr Gesicht wahren, funktionale und politische Verzahnungen wären sowohl innerhalb der Ukraine möglich als auch zwischen den russisch-ukrainischen Bundesländern und Russland. Anstatt sich ineinander zu verbeißen, würden sich Russen und Ukrainer verzahnen – und dadurch wechselseitig (!) voneinander abhängig werden. Krieg würde überflüssig.
Individueller und kollektiver Überlebens- und Selbstbestimmungswille sind nicht weniger als historische Urkräfte. Das heißt: Man kann sie vielleicht zeitweilig, aber niemals auf Dauer unterdrücken. Das ist einerseits realistisch und andererseits ethisch. Es zwingt letztlich alle Beteiligten jeder politischen Einheit, intern und extern politische Lösungen zu suchen.
Nur zwei Möglichkeiten der Konfliktlösung sind denkbar und machbar. Die eine ist der Kompromiss, die andere fortwährende Gewalt. Da Gewalt bereits auf eigenem Gebiet für jede Seite riskant bis tödlich ist, gebieten Vernunft und der jedem Menschen angeborene Überlebenstrieb, den Kompromiss im Sinne der Föderalisierung anzustreben. Nicht nur in der Ukraine.
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Lesen Sie hier eine Widerrede von Velten Schäfer auf diesen Artikel
Kommentare 13
Im Hinblick auf Ihre Schlussausführungen: Gesagtes gilt demnach auch für E im Verhältnis zu Katalonien, jenseits der auch auf fragwürdigen Umständen verabschiedeten Verfassung?
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Ähnlich Guérots "EU als Republik" mit subsidiären regionalen, alte Grenzen überschreitenden und kooperierenden Regionen?
Der Prozess der Staatenbildung im Verständnis des modernen territorialen Nationalstaates kann in zwei Richtungen interpretiert werden (vom Zentrum zur Peripherie, und umgekehrt), die zu unterschiedlichen Erkenntnissen (insbesondere zur Machtverteilung) und Schlussfolgerungen führen.
Räumliche Staatenbildung und relativ ‚autonome‘ Regionalisierung sind nicht identisch, obwohl die Nationalstaaten zu ihrer Legitimation gerne auf regionale Aspekte von Vereinheitlichung zurückgreifen.
Regionalisierung von Politik wäre viel umfangreicher, besser kulturell verwurzelt, und wahrscheinlich wesentlich stabiler (‚resilient‘), als die föderative Agglomeration von staatlichen Verwaltungseinheiten, auch in der Republik.
Der machtpolitische Organisationsrahmen (die Grenzen) des Nationalstaates wären bei 'Regionalisierung' nur ein Aspekt unter mehreren, und wahrscheinlich oft nicht der entscheidende Punkt.
Die Meinung von Michael Wolffsohn steht übrigens nicht im Gegensatz zur ‚Widerrede‘ von Velten Schäfer auf diesen Artikel; eher sind die beiden komplementär.
Da hätte man einfach Minsk I+II einhalten sollen oder, noch besser, die Lage der Minderheiten - es gibt ja nicht nur Russen - nicht provokant verschlechtern sollen.
Jetzt würde ich die Bildung von (Volks-)Republiken bevorzugen, die der RF beitreten: Donezk, Woroschilowgrad, Odessa, Bukowina, Transkarpatien, Ost-Galizien. Und nebenbei Moldawien. "Russia Minor" - est ce qui reste.
Herr Wolffsohn ist ja leidlich bekann als Vertrete weit mehr als konservariver Positionen.
In dieser Sache spricht dieser Artikel ja für sich, aber im Geiste der Demokratie sollte auch er zu Wort kommen dürfen, selbst wenn er da besseren Zugang zu einschlägiger Publizistik hat.
Gerade habe ich erfahren daß der Freitag-Chefredakteur die Akkreditierung von Ulrich Heyden in Moskau nicht mehr unterstützt.
Ist der Freitag jetzt auch ins Lager der SELBSTGERECHTEN übergelaufen ?
im "Lager der SELBSTGERECHTEN" befinden sich beide doch seit je.
und wo der gerechtigkeits-stab so heftig geschwenkt wird wie hier, mit dem stab also fortlaufend moralisch das gute vom schlechten, schwarz von weiß usw. in selbsternannter richterschaft getrennt wird, wie der hirtenstab die schafe sortiert, sind solche vetreibungen, schismen, auszüge etc. ja geradezu unvermeidbar.
die heyden-website atmet bis hinein in die klampfe doch das selbstgerechte gutgefühl der einschlägigen jugendbewegungen seit 1900, nur eben jetzt alt(backen) geworden. there's no punk, no dread anyway ... kein selbstzweifel, keine selbsterkannten unfähigkeiten o. ä. trüben das bild. ist ja auch schwierig, mit dergleichen dann auch noch journalismus oder andere erwerbstätigkeiten bestreiten zu wollen, z. b. woche für woche für selbstzweifel, zurück-haltungen u. ä. jede menge bäume als trägermaterial umsäbeln zu lassen, wenn da nicht "feste meinungen", eindeutige fakten-sichten der nase-hoch-die-augen-fest-geschlossen-klasse, sondern selbstzweifel usw., angeboten würden, - es kann eben nicht jeder punk-star sein, der davon auch wohllebt bis reich wird. und putzen gehen, taxi-fahren u. ä. punk ist den "federn" dann eben auf die dauer auch zu mies, allen sozial-gehubers zum trotz.
Wolffsohn ist ein Konservativer - richtig. Aber gerade darum ist sein Artikel umso bemerkenswerter. Seine Position bedeutet die Umsetzung der Minsker Abkommen, zu der sich die Ukraine vertraglich verpflichtet hatte. Aber es wurde keine politischen Schritte zur Föderalisierung unternommen und die anderen Partner der Abkommen haben die Ukriane auch nicht sonderlich gedrängt. Hier liegt eindeutig "politisches Versagen" (so Gerhard Schröder) der EU-Staaten und der USA vor.
Eine entsprechende Verfassungsreform sowie die Neutralisierung der Ukraine einschließlich der ewigen Garantie für den Verbleib der russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim - das wäre das Paket für einen Frieden.
Aber um eines deutlich zu machen: Trotz der Kritik an der westlichen Diplomatie im Umgang mit Rußland - der Einmarsch russisches Truppen in die Ukraine ist Krieg und Krieg ist inakzeptabel, weil Kriege immer verbrecherisch sind. Die politische Führung Russlands (darunter vor allem Putin) hat eine unverzeihliche Dummheit begangen. Sie hat sich disqualifiziert und gehört abgesetzt!
Ach ja, lieber Genosse Gysi, die NATO hat eben nicht alles richtig gemacht. Und neutrale Staaten in Europa sollten ihre Neutralität nicht aufgeben. Solche Positionen bedeuten das Ende der LINKEN als Partei. Schon das Anwanzen an Rot-Grün bei der letzten BT-Wahl hat der Partei viele Stimmen gekostet. Und die letzte Rede von Dietmar Bartsch ("natürlich soll die BW alles bekommen, was sie braucht") war eine Fehlleistung.
Klar, und da längst die meisten Knastinsassen in Berlin nicht mehr wegen Schwarzfahren sitzen, sondern wegen Berliner Schnauze - wahrscheinlich kann man dort sogar an der Uni Kölsch studieren, nicht aber Berlinerisch - werden die Separatisten Neuköllns und Kreuzberg demnächst auf ganz Berlin ausweiten und die Regierung samt der ganzen Botschaften nach Bonn zurück jagen; schliesslich wurde Berlin ja nicht mal gefragt, ob es Hauptstadt will und wird überflutet von zweitwohnsitzigen Kartoffeln, obwohls gar keinen keinen Platz gibt, oder wo sind da Kartoffelacker?
Wenn die Bevölkerungsmehrheit russisch handeln würde, dann gäbe es mehr als marodierende Milizen, die ohne Moskaus Hilfe nicht allzu viel reissen könnten, außer immer wieder Flüchtlinge abzuschlachten.
Zumal es die auch gar nicht solange gibt, im Prinzip nämlich erst seit Stalin -und damit Putins "20 Millionen in der Ukraine unterdrückte Russen" erst recht völlig schwachsinnig macht, wenn da eine unabhängige Historikerkonferenz rangehen würde- der sich hungrig an der Ukraine gerächt hatte, weil dort zwischen 1918 und 1921 echte Freiheit für Russen, Ukrainer und Griechen unter der ausgebleichten schwarzen Fahne der antipolitischen Machnobewegung "herrschte" und Lenins Konterrevolution arg in Begrängnis brachte, daß Trotzki erst wegen ihr die Rote Armee aufbauen mußte, genau wie sich jetzt Putin an Marioupolis rächt, weil dort 2014 die Front zum stehen kam, daß er deswegen eine teure Brücke über den Kerch bauen mußte, aber da ja in erster Linie nur veraltete Rüstung verballert und neue beworben wird, ist die Kriegskasse wohl noch nicht wieder voll für den nächsten Versuch, die Berliner Mauer durch Kiew zu ziehen.
föderalismus ohne partizipative/demokratische strukturen
kann auch lokal-despotismus sein.
zeigt sich in fast allen zerfall-staaten der SU.
Dieser Krieg war von Anfang an überflüssig. Aber der alte Stratege Wolffsohn hat schon recht: auf dem Papier wird eine föderale Struktur mit Bundesländern wie Kern-Ukraine, Ostukraine, Krim stehen, eine „Bundesrepublik Ukraine“. Wobei Russland auch die Gewinne des so blutigen Beutezuges einfahren wollen wird: Bundesländer Odessa, Mariupol und Charkow unter direktem Einfluss Russlands. Was wiederum die Verhandlungen endlos in die Länge ziehen würde. Garantiemächte wie bei Minsk 1 + 2 wären für das Einfrieren des Konflikts wieder nötig. (China + Türkei?)
Für die Bildung dieser Volksrepubliken lässt ja Putin Ukrainer und seine Soldaten sterben. Die Gräber sind das einzige Ergebnis sowohl Ihres als auch Putins Wunsch.
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Ich möchte nicht, das die Innen und Außenpolitik Deutschlands, von Herrn Selenskyj, Klitschko oder der Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk bestimmt oder gelenkt wird! Ich finde es erschüttern, was Frau Baerbock sich leistet, ich finde es erschüttern, wie alte Generäle der Bundeswehr – ihre “Revanche für Stalingrad sehen“ und schwere Waffen fordern! Kurz ich will nicht das ein Atomkrieg daraus entsteht, das muss im Deutschen Interesse sein! Ich finde es beschämend, das kritisches denken abgestempelt wird als unsolidarisch oder Putin nahe! Wenn Polen meint, sie müssten den“Ivan“ mit eins aufs Dach geben – aber ohne uns! Kriegsrhetorik im TV und Jubelorgien wenns den Russen erwischt. Krieg ist falsch, das sage ich auch in Richtung Putin, falsch ist aber auch, das man den Verhandlungstisch zerhackt … !Stoppt den Krieg -jetzt-endlich!