Heiner Müllers „Der Auftrag“ am Deutschen Theater Berlin: Postkoloniale Horrorshow

Theater Albtraumartige Bildsprache, apokalyptische Atmosphäre und die Gräuel des Kolonialismus: Am Deutschen Theater Berlin tritt Heiner Müllers „Der Auftrag“ in einen Dialog mit Elemawusi Agbédjidjis „Psyche 17“
Ausgabe 44/2023
Sieht wie ein Albtraum aus. Ist ein Albtraum
Sieht wie ein Albtraum aus. Ist ein Albtraum

Foto: Armin Smailovic

Was hat Heiner Müller mit Halloween zu tun? An diesem Premierenabend von Müllers Auftrag im Deutschen Theater Berlin eine ganze Menge. Regisseur Jan-Christoph Gockel inszeniert Müllers Abgesang auf die revolutionäre Utopie von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ als tragikomische Horrorshow, in der allerlei Gespenster der Geschichte ihr Unwesen treiben.

Im Zentrum der textnahen Inszenierung stehen die drei französischen Revolutionäre Debuisson, Galloudec und Sasportas, die im Zuge der Revolution von 1789 in die britische Kolonie Jamaika entsandt werden, um dort einen Sklavenaufstand anzuzetteln. Doch der Auftrag der drei ungleichen Emissäre scheitert – während sich in Frankreich Napoleon zum Kaiser krönt, verrät Debuisson, Sohn eines Sklavenhalters, seine beiden Mitstreiter, die einst ein Sklave und ein Bauer waren. „Die Welt wird, was sie war, eine Heimat für Herren und Sklaven“, heißt es bei Müller.

Apokalyptische Atmosphäre auf der Bühne

Die Inszenierung lebt von ihrer grandiosen, albtraumartigen Bildsprache und einer verdichteten Bühnencollage (Bühne: Julia Kurzweg). Im Stil eines Gruselkabinetts werden vielfache Assoziationen an die (Kolonial-)Verbrechen im Namen der Aufklärung aufgerufen: Auf der mit roter Erde bedeckten Drehbühne rotieren unablässig ein Geländewagen und ein blutrotes „Theater der Revolution“, auf einem gespenstische Schatten werfenden Gazevorhang im Vordergrund werden abwechselnd Bilder des antikolonialen Widerstands und Videoaufnahmen des Bühnengeschehens projiziert. Dazu spielt der blutverschmierte Engel der Verzweiflung aus dem Müller’schen Figurenarsenal The End von den Doors auf der E-Gitarre. All das taucht die Szenerie in eine apokalyptische Atmosphäre, die die Schattenseiten des europäischen Werteexports hervorhebt.

Neben dem gut aufgelegten Ensemble bevölkern als heimliche Hauptdarsteller des Abends auch vier knochige Skelette in weißen Ganzkörperanzügen und riesigen Totenkopfmasken des Künstlers Claude Bwendua die Bühne. Sie lassen an außereuropäische Totenkulte denken, aber auch an Müllers Revolutionsskepsis: Der Tod ist die Maske der Revolution. In ihrer plastischen Körperlichkeit stehen sie nicht zuletzt für die überkommenen Ideen des „weißen Mannes“, die als „lebende Tote“ noch immer unter uns wandeln: für Eurozentrismus, (Post-)Kolonialismus und Rassismus.

An diese Deutung knüpft auch der zweite Teil des Abends an: Nach der Pause setzt Gockel das 1980 uraufgeführte Stück in den Dialog mit einem zeitgenössischen Kommentar des togoischen Dramatikers Elemawusi Agbédjidji aus dem Jahr 2023. In einer Art Horrortrip durchquert eine schwarze Frau im Fahrstuhl – in Anspielung auf Müllers Hörspiel Der Mann im Fahrstuhl – Raum, Zeit und Hierarchien. Die wechselnd ein- und aussteigenden Gestalten führen in Psyche 17 slapstickartig das aktuelle postkolonial-paternalistische Sendungsbewusstsein des Westens ad absurdum. Das ist streckenweise erhellend und komisch. Allerdings wirken die Bilder im Vergleich zur aufwendigen Inszenierung des Auftrags seltsam platt – etwa, wenn sich ein französischer Adeliger sprichwörtlich an den zuvor gierig verschlungenen Kolonialwaren auf den Bühnenboden des DT erbricht. Dramaturgisch scheint hier die Luft ausgegangen zu sein. Das ist schade, denn die Idee, Müllers nach wie vor brandaktuellen Text mit zeitgenössischer afrikanischer Dramatik in Bezug und Dialog zu setzen, überzeugt allemal.

Der Auftrag / Psyche 17 Text: Heiner Müller, Elemawusi Agbédjidji, Regie: Jan-Christoph Gockel Deutsches Theater Berlin

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