Im Jahr 2000 erschien Konrad Paul Liesmanns Philosophie des verbotenen Wissens als Resultat seiner Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche. Der Titel selbst entstammt dem Nachlass des zeitlos Unzeitgemäßen. In dem vielleicht wichtigsten Werk Nietzsches, Jenseits von Gut und Böse, der das vorher Gedachte ordnet und den zukünftigen Größenwahn noch geschickt zu domestizieren versteht, findet sich diese elegante Passage: „Ist es denn nicht erlaubt, gegen Subjekt, wie gegen Prädikat und Objekt, nachgerade ein wenig ironisch zu sein? Dürfte sich der Philosoph nicht über die Gläubigkeit an die Grammatik erheben?“ Stimmig findet sich dieser Einwand in einer Passage, die unterstellt, es sei ein moralisches Vorurteil, die Wahrheit f
il, die Wahrheit für wertvoller als den Schein zu betrachten.Kritik am moralischen DiktatMan muss kein Semiotiker sein, um zu erkennen, dass zwischen den Zeichen und den Dingen eine unüberbrückbare Kluft besteht. Während Liessmanns Philosophie des verbotenen Wissens eine Analyse beinhaltet, die man unter anderem als eine Theorie der Lüge bezeichnen kann, so vermittelt Lauter Lügen eine Praxis der Lüge. In Miniaturen, die zwischen 2016 und 2022 erschienen sind, wendet sich der Philosoph dem Raunen unserer medial durchorchestrierten Gesellschaft zu, als praktische Auseinandersetzung mit der Faszination und der Macht der Verschwörung hin zur Skepsis am Wahrheitsstreben selbst. Sie stellen eine angewandte Philosophie dar, die sich gegen Zeitgeisterscheinungen wendet. Der Ausdruck „Zeitgeist“ selbst wäre ein Anlass einer solchen Liessmann’schen Glosse. Oft bildet nämlich eine aktuelle sprachliche Verstiegenheit oder ein modischer Ausdruck den Anlass für seine philosophischen Kommentare. Vor allem die gedrängte Kritik am moralischen Diktat bildet den Kern dieser gesammelten Widerreden. Verkürzt ließe sich Liessmanns Diagnose so zusammenfassen: Je vehementer im Diskurs auf moralphilosophische Dogmen gesetzt wird, umso trister steht es um die Wirklichkeit dieser Kultur.Es ist das Verdienst Nietzsches, dass der Begriff des Werts selbst einer Kritik unterzogen wurde. Mit dieser Kritik verschwimmen die vermeintlich klaren Grenzen der Ästhetik und der Ethik. Die Begriffsschwere, von der manche Abhandlung durchsetzt ist und damit zur zähen Lektüre mutiert, ist weder Nietzsches noch Liessmanns Programm. Statt Rückzug in den akademischen Elfenbeinturm greift er zur Feder als bewährtes Fechtutensil. So tritt er gegen ideologisierte Versteinerungen aller Art an: Ob Cancel Culture, Wokismus, Klimaschutz, Kriegspolitik oder vereinnahmende Solidarität – jeder Aufruf zum Gehorsam wird angezweifelt, insbesondere dann, wenn sich dieser Aufruf aus betont humanen Haltungen abgeleitet sieht. Dass das Unbehagen an der Kultur gekommen ist, um zu bleiben, ist eine (postmoderne) Binse. Wie sich aber in prägnanter Dosierung gegen ideelle Vereinnahmung andenken lässt, ohne die damit durchaus wünschenswerten gesellschaftspolitischen Ziele zu verachten, zeigt diese Sammlung auf. Wir befinden uns in einer Epoche medialer Zuspitzung und Nivellierung zugleich, in welcher apodiktische Wahrheitsschreierei, zynische Menschenverachtung oder schlichte Ignoranz den vernunftorientierten Dialog erschweren. Die jüngeren Krisen haben dies veranschaulicht. Aus etwas reflektierter Distanz heraus verstehen wir die Mechanismen, die Empörung oder Passivität nähren. Hilfe dazu leisten die Interventionen Liessmanns, die den Finger auf manche Wunde im Diskurs legen. Sie zeichnen eine scharfzüngige Skizze gegenwärtiger intellektueller Trends, eben des sogenannten Zeitgeistes, den man als kleinen, meist selbstgefälligen Bruder des Weltgeistes verstehen könnte.Manchmal ist die Polemik stärker, manchmal in väterlicher Sorge um die Zivilgesellschaft. Kluge Kontroverse macht sichtbar, was sonst unterzugehen droht. Defizite aufzuspüren, zu benennen und ihre problematischen Nebenwirkungen zu ermitteln, ist das Anliegen von Lauter Lügen. Denn im Gegensatz zu vielem, was der Zeitgeist fordert, nämlich dieses oder jenes zu denken, fördert dieses Buch die Bereitschaft, selbst zu denken. Kantianische Renaissance an Denkschärfe wird mit einer Brise Nietzsche abgerundet – unverzichtbarer Eigensinn in der digitalen Ära.Der Titel lässt sich auch als Imperativ verstehen, als die Aufforderung, durchschlagskräftiger und listiger zu lügen, damit sich die eigene Lüge gegen andere behauptet. Es steckt zugleich ein Lob der Lüge darin. Denn wie schon Sokrates im Hippius minor feststellt, erfordert die Lüge die Kenntnis der Wahrheit und die Fantasie, diese zu entstellen. Lügen lernen könnte man also als Kulturtechnik bezeichnen, die einen rhetorischen Vorteil verschafft. Gerade deshalb hat es auch der listenreiche Odysseus zurück nach Ithaka geschafft. In diesem Sinn verstanden, mangelt es insbesondere der politischen Elite wachsender Autokratien an begabten, fantasiebeflügelten Lügnern. Denn sie lügen einem Spin-doctor ins Gesicht. Da dies so viele merken, sind Enttäuschung und damit Politik- wie Kulturverdrossenheit verständlicherweise ausgeprägt.Placeholder infobox-1