Linken-Politikerin Özlem Alev Demirel: „Habecks gefeierte Rede ist pure Demagogie“
Interview Wer Frieden will, kann sich nicht immer hinter dem Argument „Aber die Hamas ist …!“ verstecken, sagt die Europaabgeordnete Özlem Alev Demirel. Ein Gespräch über Pro-Palästina-Demos, Israel und die Lage in Gaza sowie Sahra Wagenknecht
Bei der Europa-Wahl vor vier Jahren war Demirel hinter Schirdewan auf Platz zwei Spitzenkandidatin ihrer Partei und ist seit 2019 Abgeordnete der Linken in Straßburg und Brüssel. Vor Beginn des Bundesparteitags in Augsburg sprach die 39-Jährige über die Debatte um einen Waffenstillstand im Gaza-Krieg, Pro-Palästina-Demonstrationen in Deutschland sowie über den Parteiaustritt Sahra Wagenknechts und die Spaltung der Linken.
der Freitag: Frau Demirel, was waren Ihre ersten Gedanken, als Sie am 7. Oktober vom Massaker der Hamas erfahren
auf Platz zwei Spitzenkandidatin ihrer Partei und ist seit 2019 Abgeordnete der Linken in Straßburg und Brüssel. Vor Beginn des Bundesparteitags in Augsburg sprach die 39-Jährige über die Debatte um einen Waffenstillstand im Gaza-Krieg, Pro-Palästina-Demonstrationen in Deutschland sowie über den Parteiaustritt Sahra Wagenknechts und die Spaltung der Linken.der Freitag: Frau Demirel, was waren Ihre ersten Gedanken, als Sie am 7. Oktober vom Massaker der Hamas erfahren haben?Özlem Alev Demirel: Ich habe nach und nach über Social Media davon erfahren. Die Taten an unschuldigen Zivilisten waren schrecklich. Die Bilder können niemanden kalt lassen. Relativ schnell kam dann auch von der israelischen Regierung die Ankündigung, hart reagieren zu wollen. Ich dachte nur: Wann endlich hört dieses Leid für die Menschen in Israel und Palästina auf?Sie haben die Angriffe der israelischen Armee auf Gaza in der Vergangenheit stets kritisiert. Sie sagten, es handele sich hierbei nicht um Selbstverteidigung oder eine Reaktion auf Hamas-Raketen, sondern um einen gezielten Krieg gegen das palästinensische Volk. Haben Sie Ihre Meinung mittlerweile geändert?Ich habe stets unterstrichen, dass man Unrecht nicht mit Unrecht bekämpft. Wir müssen endlich über einen nachhaltigen Friedensprozess reden und die Gewaltspirale durchbrechen. Das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser darf nicht mit Füßen getreten werden, es braucht Gleichberechtigung. Nun droht ein Flächenbrand. Und das macht etwas mit unserer Menschlichkeit.Hunderte Pro-Palästina-Demonstrationen in ganz Deutschland …… deren Teilnehmer von den Medien und Vertretern anderer Parteien diffamiert werden. Ihnen wird abgesprochen, gegen den Krieg zu sein und zudem unterstellt, sie wären Hamas-Freunde. Wir sehen: Wenn Krieg ist, werden elementare Menschenrechte angegriffen und Grundrechte in Frage gestellt. Gerade auch für die Verteidigung der Demokratie braucht es aber eine starke Friedensbewegung.„Derzeit sehen wir, wie auf die schrecklichen Verbrechen der Hamas wiederum mit Kriegsverbrechen geantwortet wird“Haben Sie auf den Demonstrationen keine Hamas-Sympathisanten gesehen, die die Vernichtung Israels fordern?Ich habe wahrgenommen, dass immer mehr Menschen auf die Straßen gehen und diese Demos sehr divers sind. Und ja, natürlich versuchen im Moment auch reaktionäre islamistische Kräfte das Leid der Palästinenser zu instrumentalisieren – daraus schließe ich aber erst recht, dass fortschrittliche demokratische Kräfte nicht mehr schweigen dürfen.Weshalb sehen wir so wenige Anti-Hamas-Demos und so viele Anti-Israel-Demos?Noch mal, die meisten Demos sind vielfältig. Derzeit sehen wir, wie auf die schrecklichen Verbrechen der Hamas wiederum mit Kriegsverbrechen geantwortet wird. Die Menschen aber sehnen sich nach Gleichberechtigung und Frieden. Wir haben die Wahl: Entweder kämpfen wir jetzt für Frieden und Menschlichkeit – oder wir werden jeden Tag ein bisschen mehr hiervon verlieren. Dieser Krieg muss aufhören. Dass die Verbrechen der Hamas an Zivilisten zu verurteilen sind, steht außer Frage.Nach dem Hamas-Angriff auf Israel häufen sich die Übergriffe auf jüdische Einrichtungen. Viele Juden in Deutschland haben Angst.Das verurteile ich natürlich. Lassen Sie mich das ganz klar sagen: Ich finde, Antisemitismus ist kein Kavaliersdelikt, sondern ein Riesenproblem.Aber?Kein Aber. Antisemitismus ist immer schlimm – egal von wem er kommt. Ich bin in der Linken und kämpfe für Frieden. Wenn nun allerdings jede Debatte mit dem Argument des Antisemitismus unterdrückt werden soll, halte ich das ebenso für falsch.„Frieden scheint für die Bundesregierung ein Unwort geworden zu sein“Wer tut das?Unter anderem die in Verantwortung stehenden Politiker, die Demonstrationen, die ihnen nicht gefallen, grundsätzlich verbieten wollen. Damit stärkt man nicht den Kampf gegen Antisemitismus, sondern beschädigt die Demokratie.Sie gehörten einmal dem Integrationsrat Köln an und arbeiteten auch im Koordinierungskreis der Landesgemeinschaft Migration, Integration und Antirassismus. Wie umgehen mit Antisemitismus in Deutschland?Zumindest nicht so, wie Robert Habeck es formuliert, dessen medial gefeierte Rede aus meiner Sicht nur eines war: pure Demagogie.Eingebetteter MedieninhaltWie meinen Sie das?Hätte er deutliche Worte gegen Antisemitismus gefunden, zugleich einen Waffenstillstand gefordert und sich zudem für die Gaza-Resolution in der UN-Vollversammlung ausgesprochen, bei der sich Deutschland bekanntermaßen enthalten hat, würde ich ihn loben. Stattdessen lehnt die Bundesregierung einen Waffenstillstand ab. Das ist inakzeptabel. Frieden scheint für die Bundesregierung ein Unwort geworden zu sein.Sie halten Vizekanzler Robert Habeck für einen Demagogen?Ich sage, seine Rede war pure Demagogie. Mir fehlt in seinen Ansprachen die Differenzierung. Man kann doch nicht das eigene Versagen und den nicht vorhandenen Willen verstecken, indem man immer wieder nur auf die Hamas verweist. So kommen wir doch nicht weiter.Sie fordern einen Waffenstillstand und sprechen von einem „gerechten und nachhaltigen Frieden“. Wie soll es ohne die Zerstörung der Hamas je Frieden zwischen Arabern und Juden geben?Da muss ich leider anmerken, dass es Stimmen gibt, die unterstreichen, dass die Regierung Benjamin Netanjahus die Hamas gestärkt hat, um einen Vorwand zu haben, eine nachhaltige Friedenslösung immer wieder abzulehnen. Warum finden denn seit Jahren keine Wahlen in Palästina statt? Weil die Netanjahu-Regierung das mehr oder weniger blockiert. Kurz: Reaktionäre Kräfte nähren sich gegenseitig, man kennt das. Auch immer mehr Israelis erkennen, dass die Netanjahu-Regierung den Jüdinnen und Juden keine Sicherheit bringt.„Die zentrale Frage lautet: Wie kann es ein gleichberechtigtes Palästina geben?“Täuscht der Eindruck, oder ist die israelische Regierung aus Ihrer Sicht das größere Problem als die Hamas?Ich gehe von der Realität aus. Und die sieht so aus, dass das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser in Frage gestellt ist. Die zentrale Frage lautet: Wie kann es ein gleichberechtigtes Palästina geben? Wir müssen endlich über einen Lösungsprozess reden, denn die Palästinenser erleben tagtäglich Unrecht.Die Hamas hat weitere Terroranschläge wie den vom 7. Oktober angekündigt, lässt die Geiseln nicht frei und beschießt Israel weiter mit Raketen.Noch mal: Angriffe auf Zivilisten sind zu verurteilen! Und dass die Geiseln schleunigst freigelassen werden sollten, steht außer Frage. Klar ist aber auch: Israel muss seine falsche Staatspolitik endlich ändern. Zudem appellieren ich und meine Fraktion an die internationale Gemeinschaft, ihr Schweigen darüber zu brechen. Wieso schauen wir immer nur auf das Problem, wenn es in der Region mal wieder knallt? Auf Gewalt und brutale Anschläge der Hamas folgt stets brutale Gewalt Israels, soll das ewig so weitergehen?Darf Israel sich nicht verteidigen?Israel hat wie jeder Staat das Recht, sich gegenüber Angriffen anderer Staaten zu verteidigen. Aber das Massaker in Gaza steht in keinem Verhältnis und hat mit Selbstverteidigung nichts zu tun. Diese Eskalation wird keinen Frieden bringen. Die Friedensstimmen werden nicht erstarken und der Hass wird weiter aufflammen.Ich frage noch einmal: Welche Reaktion Israels auf tausendfache Morde, Vergewaltigungen, Geiselnahmen, brutale Folter – und den Jubel und Stolz darüber – hielten Sie denn für angemessen?Es geht mir nicht darum, irgendetwas zu relativieren. Wer allerdings ernsthaft an einem Frieden interessiert ist, kann sich nicht immer hinter dem Argument „Aber die Hamas ist …!“ verstecken. Man muss es vom Ende her denken.Und was genau meinen Sie damit?Die Palästinenser werden sich mit diesem Elend nicht abfinden. All diejenigen, die wollen, dass Hamas nicht erstarkt, müssen dafür sorgen, dass das Unrecht, das die dort lebenden Menschen erfahren, beendet wird. Wenn Israel ausschließlich die Militarisierung und Versicherheitlichung in den Vordergrund stellt, wird das Elend nicht enden.Hamas' Ziel ist die Auslöschung Israels.Der Staat Israel ist ein Fakt und es ist in jeder Hinsicht nicht richtig, das in Frage zu stellen. Sie reden jetzt über die Haltung einer reaktionären islamistischen Organisation, die sich vom Krieg nährt. Unser Fokus bei der Debatte sollte allerdings nicht darauf liegen, was diese Kräfte sagen, sondern wie Sicherheit und Gerechtigkeit für alle Menschen hergestellt werden kann. Die Politik von Benjamin Netanjahu, von reaktionären Kräften in Israel, ist falsch und nicht zukunftsträchtig, sie bringt auch keine Sicherheit für die israelische Bevölkerung.„Die Hamas ist in meinen Augen eine reaktionäre islamistische Organisation, die bei den letzten Wahlen in der Region als Sieger hervorging. Deshalb wären Neuwahlen so wichtig gewesen“Anders gefragt: Was ist die Hamas für Sie, Frau Demirel?Die Hamas ist in meinen Augen eine reaktionäre islamistische Organisation, die bei den letzten Wahlen in der Region als Sieger hervorging. Deshalb wären Neuwahlen so wichtig gewesen. Meiner Meinung nach hat Hamas dem Kampf der Palästinenser für Selbstbestimmung sehr geschadet, sie hat diesem Kampf eine extremistisch religiöse Farbe gegeben. Das Ergebnis: Fortschrittliche Kräfte in Israel wurden geschwächt und religiöser Extremismus im Land gestärkt.Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan nennt die Hamas-Terroristen Freiheitskämpfer.(lacht) Sie wissen, ich bin keine Anhängerin Erdoğans – im Gegenteil. Herr Erdoğan soll bitte auch aufhören, das Leid der Palästinenser für seine politischen Zwecke zu instrumentalisieren.Warum sprechen Sie nicht von Terroristen?Nennen Sie die Hamas, wie sie wollen. Mein Fokus liegt darauf, wie wir endlich wieder zu Frieden und Gerechtigkeit kommen.Was antworten Sie all jenen, die sagen, die Hamas missbrauche diejenigen, in deren Namen sie vorgeblich handelt, als menschliche Schutzschilde?Hamas tut bestimmte Dinge, von denen sie weiß, dass bestimmte Reaktionen kommen, das ist doch klar. Doch glauben Sie, dass uns allein die Verurteilung von derartigen inakzeptablen Verbrechen voranbringt? Ich möchte lieber über mögliche Lösungswege sprechen.Dann erklären Sie doch bitte einmal, wie der von Ihnen benannte Frieden unter diesen Bedingungen erreicht werden könnte?Da muss ich vorwegschicken, dass es diesen Wunsch vonseiten der Netanjahu-Regierung leider nicht gibt.Ich habe ja auch Sie gefragt.Die zentrale Frage ist, wie es weitergeht mit den Protesten in Israel. Sollten die Proteste gegen die Regierung wieder größer werden und sich Netanjahu nicht halten können, gäbe es zumindest die Chance auf eine Politikwende. Selbstverständlich brauchte es zudem eine internationale Gemeinschaft, die auf ein gleichberechtigtes Palästina besteht.„Wohin sollen die Menschen fliehen? Wer sich ehrlich macht, weiß, dass im Moment jegliches Leben in Gaza in Gefahr ist“Sie haben am Tag nach dem Massaker auf der Plattform X (vormals Twitter) Israel für dessen Siedlungspolitik kritisiert und geschrieben, die Regierung trete nicht nur die Rechte der Palästinenser mit Füßen, sondern möchte auch Rechtsstaatlichkeit und damit demokratische Rechte der Israelis beschneiden. Im Rückblick: War das der richtige Zeitpunkt für derlei Aussagen?Mir geht es um die Völkerfreundschaft. Ich habe das Bild einer palästinensisch aussehenden Frau und eines jüdisch aussehenden Mannes gepostet, die sich an der Mauer küssen. Ein Bild, das in diesen Stunden von vielen wahrscheinlich nicht gern gesehen wurde. Und ja, ich fügte an, dass Angriffe auf Zivilisten, egal ob von der Hamas oder von der Netanjahu-Regierung, nicht akzeptabel seien und die aggressive Siedlungspolitik Israels ein Ende haben müsse.Warum kein Wort zu den Morden der Hamas an israelischen Zivilisten?Ich schrieb: „Die Bilder und Meldungen, die uns gerade aus Israel und Palästina erreichen, sind besorgniserregend. Es braucht endlich einen gerechten Frieden für die Völker in der Region. Deeskalation statt Eskalation sollte das Gebot der Stunde sein.“ Ich finde, das ist mehr als deutlich, zumal die Netanjahu-Regierung zu diesem Zeitpunkt bereits angekündigt hatte, hart reagieren zu wollen.Die Hamas tötet, verschleppt und foltert Zivilisten, die israelische Armee gibt den Zivilisten im umkämpften nördlichen Gazastreifen immer wieder Zeitfenster für die Flucht in den Süden. Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?Ich bitte Sie, wohin sollen die Menschen im Moment fliehen? Wer sich ehrlich macht, weiß, dass im Moment jegliches Leben in Gaza in Gefahr ist. Egal, ob Süden, Norden, Osten, Westen – nirgends gibt es da Sicherheit im Moment.„Über eine Spaltung der Linkspartei kann ich mich nicht freuen“Der Linken-Parteitag in Augsburg ist der erste nach dem Austritt Sahra Wagenknechts. Sind Sie froh, dass sie gegangen ist?Über eine Spaltung der Partei kann ich mich nicht freuen. Aber es ist nun mal ein Fakt – und ich gehe damit um.Zerreißt das die Linkspartei?Ach, wir werden sehen, wohin sich das alles entwickelt. Ich gehöre zu denen, die versuchen, möglichst realistische Lageeinschätzungen zu geben. Es bringt doch nichts, nur Wünsche zu äußern. Was wir sehen, ist, dass Frau Wagenknecht ein anderes Angebot macht als die Linke – was genau, ist ja noch offen. Die Linke muss sich jetzt um ihre Position kümmern und das eigene Profil schärfen.Das heißt?Wir setzen ganz klar auf Frieden, soziale Gerechtigkeit und Solidarität.
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