Martin Walser kam vom Bodensee, seiner Welt. Da schwamm er so gerne hinaus. Fast bis zuletzt, als es nur noch mit den Augen ging
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Die Zeit vergeht. Wir schauen auf die Uhr. Und schon ist es Abend.
Es heißt zwar, jeder Mensch sei ersetzlich. Aber dieser furchtbare Satz aus der Sprachwelt der Utilitaristen und der Funktionäre stimmt nicht. Kein Mensch ist ersetzlich, und einer wie Martin Walser schon gar nicht.
„Die Welt will alles sein, aber nicht sinnlos“, so heißt es in seinem Spätwerk Statt etwas oder Der letzte Rank. Martin Walser bestätigt durch sein Schreiben, dass es nicht umsonst war. Nun werde ich weiterlesen und ihn aufleben lassen.
Wenn einer fortgeht ... Als begänne nun auch so das letzte Romankapitel im Leben von Martin Walser. Ich sehe ihn nun am Geländer zum See hinuntergehen zum Schwimmen ...
Lange Besuche, doch es war fast immer zu kurz. Ehrt mich das? „
ast immer zu kurz. Ehrt mich das? „Denn hau doch ab!“ „Abrr kummschd widrr, gell!“ Wir sprachen nämlich allemanisch miteinander, nie Hochdeutsch, oder nur ganz am Anfang, als wir uns noch nicht so kannten, das ist Jahrzehnte her.In kein anderes Haus bin ich in den vergangenen 30 Jahren mehr gekommen als ins Walserhaus. In 20 Minuten war ich in Nußdorf. Im Walserhaus mit seinen wunderbaren Menschen. Martin Walser kam vom Bodensee, seiner Welt, niemals Provinz. Denn Provinz gibt es nicht, es gibt nur Welt. Da schwamm er so gerne hinaus. Fast bis zuletzt, als es nur noch mit den Augen ging. Er hatte einen Großvater, der mit dem Satz „Wenn i bloß ge Amerika wär!“ zurückblieb. Er mag diese Umzugspläne auch erwogen haben. Aus Amerika brachte er den Roman Brandung mit. Uwe Johnson wollte ihn und seine Familie nach Berlin-Friedenau locken, „damit die Kinder nicht diese hässliche Sprache sprechen“ – so weiß ich es von den am See Gebliebenen.Er hat als Reporter begonnen. Martin Walser war aber auch damals schon Hebamme oder Ermöglicher – als ein Beispiel Arno Schmidt: Ihn lud Walser in den Sender in Stuttgart ein, und dann auch zu sich nach Hause. Und im Wäschekorb lag die kleine Franziska, Schmidt kommentierte diese Entdeckung dann mit dem Satz „Meine Frau hat Katzen“.In seinem Springenden Brunnen von 1998 lässt Martin Walser einen Vater sagen: „Johann, ich staune!“ Und so geht es mir auch. „Und wenn ein Mensch stirbt, dann stirbt mit ihm die erste Erdbeere und der erste Schnee“, wie es in einem Gedicht von Jewgeni Jewtuschenko heißt.Alle Menschen sind am 24. März 1927 in Wasserburg geboren, las ich. Und nun sind sie da auch gestorben. Lang oder kurz ist die Zeit, sagt sein Hölderlin, mit dem alles anfing. Es war auf dem Dachboden, ein Glück seines Lebens.Martin Walser ist nach einer langen, schweren Zeit, in der die Schritte und die Worte immer weniger wurden, ganz friedlich gestorben, daheim, nach dem Aufwachen am frühen Morgen, gleichsam noch einmal, Atem holend, eingeschlafen. Als wäre es noch zu früh gewesen, um aufzustehen und sich für den Tag zu rüsten.Es heißt atemraubend! Auf dieses Wort hat Martin Walser bestandenJa, die Winter und die Sommer sind nun vorbei. Wurde nicht gerade erst im Walserhof von Wasserburg der 70. Geburtstag gefeiert? Es war die Zeit von Ein springender Brunnen, der als Beginn des Alterswerks datiert werden könnte. Und dann schon der 80. Und erst recht der 90.: Rund um den See waren es gefühlte 100 Feiern, doch an keiner hat Martin Walser leibhaftig teilgenommen. Dieses Gefeiertwerden zeigt die Verbundenheit des Sees mit Walser. „Wir sind auf einer Schmerzfrequenz“, so stellte mich Martin den Gästen vor, die von Heribert Tenschert in die Bibermühle geladen worden waren. Wie schön es sein kann, zu danken, auch dafür, zeigt die Werkausgabe, die Tenschert uns zu Walsers 90. Geburtstag geschenkt hat. Und gerade hier ist das Wort „atemraubend“ das naheliegendste. Ein Lieblingswort Walsers, im Rank kommt es viermal vor. Einmal sagte ich „atemberaubend“. Welche Enttäuschung: Jetzt sagst auch du so. Es heißt aber atemraubend! Darauf bestand Martin Walser.Die Bücher, die Martin Walser in den vergangenen Jahren seines hohen Alters schrieb, sind staunenswert für jenen, der bereit ist, Walsers poetischem Werk, das in gewisser Weise auch eine Abkehr vom Romanhaften bedeutet, zu folgen. Das deutete sich schon länger an. Es war in Konstanz, vor ein paar Jahren: In scharfer Form wandte sich Walser nun gegen die Belletristik: „Das ist da, wo man Tee trinkt, und dann kommt die Polizei.“ Er war nun wieder ganz Dichter geworden. Was er immer schon war. Seine Schaffenskraft wurde dadurch nur noch konzentrierter auf den poetischen Kern seines Lebens.Wie schön es sein kann, Ja zu sagen. Selbst noch zum Schmerz, der hätte leicht zu einem Nein werden können. Ich weiß nicht, welches der Worte sein erstes war, aber „Nein!“ wie bei einem Kind, von dem ich auch weiß, war es bestimmt nicht. Auch nicht „Auto“. Ich vermute, es könnte „Ja!“ gewesen sein. „Ich bin, was ich bin. Oder ich bin nichts.“ Das ist von John Henry Newman. Der war noch so einer.Martin Walser war so präsent und aktiv wie keiner – so lange und so wirksam. Aber alles Treiben der Vita activa hat doch einen unschmelzbaren Kern: es sagen können. Was einer hat oder was einem fehlt. „Den Hauptschmerz nennen und ihn aufschreiben.“Ist der Schriftsteller nicht derjenige, der jene andere Geschichte schreiben muss, die als Glück gedacht war? Dass Gott fehlt, ist ein Hauptschmerz Walsers. Aber wir können von ihm singen. Warum all die schönen Sätze wegerklären, wie es mancher Theologe machte, zum Beispiel beim Lesen der Bibel? Dazu war ein Sprachmensch wie Martin Walser nicht auf der Welt.Er war nicht dazu da, die Welt ärmer zu machen, als sie schon war – „metaphysisch obdachlos“ geworden. Denn sonst bliebe nichts übrig als der in so und so viele Teile sezierte Mensch. Schreiben ist noch mehr als Kontingenzbewältigungspraxis. Es ist auch „Ich hatte viel Bekümmernis“ singen. Walser hat seinen Schmerz satzweise hinausgesungen. Schreiben und Singen sind eins in diesem grandiosen Werk mit dem Schmerz als Cantus firmus.Früher hat der Mensch die Seele gewaschen, sooft es ging. Heute duscht er sich. Der Wechsel vom Reinen zum Hygienischen: Im Schwimmen fallen vielleicht beide Regungen noch zusammen.Ein wunderschönes Beispiel dafür, wie er Ja sagt, gerade zum Wunder der Sprache, ist sein Dr. Feinlein, der tragische, komische Held von Mein Jenseits. Feinlein, der Chefpsychiater von Scherblingen, will die Heiligblutreliquie retten vor dem Zugriff der Utilitaristen und wird deswegen von seinen Mitarbeitern für verrückt erklärt. Diese leben als Menschen von heute mit dem Weltbild der Stiftung Warentest, das Wort „Mensch“ ist längst durch den „Verbraucher“ ersetzt. Vom Sehnsuchtsschmerz ist der zu Fit for Fun gewechselt. Der Utilitarismus, also das sich alles rechnen muss, selbst der Tod, ist allmächtig geworden; und daher der Siegeszug der verbraucherfreundlichen Urne und der Friedwälder. Nicht so bei Feinlein und Walser.Wenn er hereinkam, hatte ich jedes Mal die Empfindung, hier komme der einsamste und schmerzbeladenste Mensch auf der Welt. So war es bei seinen Lesungen. Aber immer auch: Jetzt waren wir vollzählig. So schreiben geht ja nicht anders, und so lesen auch nicht: Beides ist eine sehr einsame Tätigkeit. Dagegen das schauspielhafte Aufführen eines grandiosen Leseabends vor großem Publikum. Auch da war Martin so virtuos wie keiner.Martin Walser hatte die Gabe, Wasser in Sprache zu verwandelnDie schönste Eigenschaft von Martin Walser als Leser ist wohl sein Rühmungsvermögen. Das macht ihm so leicht keiner nach. Und schreibend zeigte er uns dann den Meister. Wie vielen Kollegen er weitergeholfen hat, indem er ihr Schreiben rühmte? Es sind mehr, als ich wissen kann. Danke, lieber Martin, sage ich hier, auch stellvertretend.Gerade am Tag der Meldung, Martin Walser sei gestorben, sah ich eine alte TV-Aufnahme, noch in Schwarz-Weiß. Da wurde er aus dem Publikum nach dem Sozialismus gefragt: „Eine Idee?“ Nein, eine Herzensangelegenheit. Damals war Martin Walser der DKP nahe. Immer aus Solidarität mit den Menschen und keineswegs aus politischem Kalkül oder aus ideologischer Verwegenheit.Hineingesungen ist sein Werk in die Welt, auch in die Welt am Bodensee, der längst die Wohlfühlregion Nummer eins ist, von wo auch in alle Welt Waffen geliefert werden, vor denen mancher Mensch flüchtet. „Waffen“ war ein Wort, das Walser auch nicht glücklicher machte. Als sein letztes Zeichen an die Öffentlichkeit hat er jenen Brief an Scholz mitunterzeichnet.„Ich anerkenne diesen Tod nicht!“, schrieb er mir, 2012 konfrontiert mit der Nachricht, dass der ihm sehr liebe, schon seit dessen Kindheitstagen vertraute Michael Felder, der als Priester und Professor einen beträchtlichen Einfluss auf den Walser der Mein-Jenseits-Zeit hatte, nach einer Bergmesse in Zermatt im Mittagsschlaf gestorben sei, Alter: 46 Jahre.„Oh, daß ich einsam ward, so früh am Tage schon!“, heißt es mit Nietzsche im Springenden Brunnen. Da hat einer einen Leidensvorsprung. So ist es wohl bei jedem Menschen, der zu schreiben beginnt. „Ich gebe den Schmerz nicht her, weil ich sonst das Göttliche hergeben müsste.“ Das las Martin Walser im Gefangenenlager bei Adalbert Stifter. Ein Therapeut müsste sich bei diesem Satz doch in Frage gestellt sehen, gar bedroht, um seine Existenz betrogen, und einen solchen Menschen, der auf diesen Satz gekommen ist, für einen hoffnungslos untherapierbaren Fall halten. Er aber schrieb. Und Walser wurde zu Walser. Von da ist es ein Weites, vom Lesen und Schreiben ganz für sich allein im Stillen zu dieser Öffentlichkeit, die ihn feiert.Martin Walser hatte die Gabe, Wasser in Sprache zu verwandeln. Und konnte seine Welt in seine Sprache holen. Sein ganzes großes Werk ist eine Übersetzung von Welt in Sprache, seiner Welt in seine Sprache, ist Weltliteratur. „Wenn du nicht gewesen wärst, Sprache, hätte es mich nicht gegeben.“ Aber es gab sie und ihn, was für eine glückliche Verbindung.Seinen Blick unter diesen Nietzsches Schnauzbart vergleichbaren Augenbrauen, wie er dich anschaute, auch das werde ich nicht vergessen, und für immer vermissen. Wie schwer ist es, „für immer“ zu sagen. Nun ist dieser Martin der Vermissteste. Gerade für einen wie mich. Doch was wäre die Welt ohne jene Hoffnung, die in dem Wort „À DIEU“ aufgehoben ist? Ade, Martin.